Schweigen der Stille

Es war ungewohnt still geworden im Seilerhaus. Viele Menschen waren nicht da. Der Seiler war krank geworden, und das hatte seinen Einfluss. Die Seile waren dann ungewohnt trocken und konnten insgesamt für nur sehr wenige Aufgaben verwendet werden. Aber es kamen eben immer noch aus dem Haus des Seilers. Und das war nicht irgendwas. Selbst in dieser kaum verwendbaren Güte waren sie immer noch besser als so manch’ andere Alternativen. Die Räume scheinen heute größer. Vielleicht, weil niemand da ist—obschon sie ja kleiner als heute erscheinen. Selbst wenn jemand in einem anderen Raum ist und ich im Grunde doch gelegentlich allein in einem Raum bin. Das sind selstame metaphysische Unterschiede. Die Wirkung der Raumgrößen ist abhängig von der gewähnten Nähe unsichtbarer Gesellschaften, jener Ansammlungen von Personen von vielfach verschiedenen definierter Funktion. Hätte ich Gelegenheit dazu, dann würde mir jetzt ein wenig übel werden. Eigentlich ist der permanente Käsegeruch aus den Abstreifungen der Seile außerhalb von diesem Ort sicher kaum zu ertragen. Hier gehört er irgendwie dazu. Der Ort wäre fade ohne den Geruch. Und natürlich färbt er auch alle anderen vielfachen Gerüche, sobald Menschen da sind. Mehr noch: Er bestimmt auch, mit welchen Gerüchen die Menschen sind einkleiden. Die meisten der hier sonst anwesenden, sind Düften und Gerüchen gegenüber sehr aufgeschlossen. Das ist ein unsichtbares, raumfüllendes Moment. Es fehlt nun. Die trockenen Seile, die mich traurig an die Krankheit des Seilers erinnern, der Käsegeruch alleine und das Fernbleiben der gewohnten und eben auf das ganze Seilerhaus und seine verschrobenen Insassen zurechtkomponierten Düfte. Für den Moment scheint mir das als erklärende Ursache genug für die Wirkung der größeren Räume. Ich drehe mich kaum zehn Grad nach links, tippe zweimal mit der Schuhspitze, Blick an die Decke und an den Boden. Dem Raum allein fehlt es an Eleganz, wie ich meine. Er birgt zwar ein Stück zu Hause in dem komplexen Geflecht, das seine Erscheinung und meine inzwischen zahlreichen Erinnerungen bieten, aber er ist doch nicht wirklich zu Hause.

So, als käme man nach Jahren einmal in das die Wohnung oder das Haus zurück, das man zu Kindertagen einmal intensiv bewohnt hatte und dem man eine zeitlang irgendwie traurig hinterhergeträumt hat. Ich warte ab, ob mir der Raum nicht einfach so eine Geschichte erzählt. Als eigentlicher Hintergrund, die spannende Bewegung der Kulisse. So, wie in dem Film Koyaanisqatsi etwa. Aber ich habe keinen menschlichen Zeitraffer eingebaut. Oder besser: der ist invers aktiv. Wenn viel passiert, dann ist der an. Wenn wenig passiert, dann gilt die Zeitlupe. Also lausche ich den ehrwürdig langsamen Bewegungen, dem Atmen von Objekten. Es vergeht sehr viel gefühlte Zeit. Die Muster sind kaum erkennbar. Mir scheint aber, als entdecke ich in dieser langsamen Bewegung einen Impuls, gerade zu wenig, um ein echtes Muster zu sein. Für heute soll meine Erklärung ausreichen, dass Personen (per sona, und so weiter) diesem Impuls etwas entgegen setzen müssen, um ihrerseits substantiell etwas davon mitzunehmen. Ich habe eine ganz einfache und sehr oberflächlich erscheinende Interaktion zwischen dem Raum und der Person entdeckt. Ein Grundprinzip der Resonanz. Der Klang (per sona) breitet sich nicht ohne einen Körper aus, genauer: nicht ohne einen Hohlraum. Und dieser Resonanzkörper hat es in sich, hat wie bei einem expertisereich gespielten und geliebten Instrument ein so bewundernswertes Eigenleben, das es mir schwerfällt den Klang (per sona) vom Raum (locatio) zu trennen. Ich habe also mit offenen Augen, Ohren und Nase, frei in den Raum hinein-halluziniert. Das Seilerhaus hat sich mit einer Erkenntnis bedankt, die mir ohne seine Intensität zu schwach zum Bemerken und zu vage zum Begreifen gewesen wäre. Ob der Raum selbst oder meine Erinnerungen der Umgebung diesen Ausdruck verliehen haben, verschließt sich meinem Verstand. Meine Intuition möchte das mal so herum, mal anders herum interpretiert wissen. Je nach Laune: Ganz Intuition eben.

So stehe ich hier frei, und werde doch von meinem aufkeimenden Bedürfnis nach deutlich weniger subtilen Impulsen gefesselt. Der Raum bindet mich durch meine Erwartung, die er für mich erfüllen soll, und der er an sich nicht entsprechen kann. Wären auch nur zwei von uns hier drin, so wäre die Komplexität schon nicht zu überbieten. Mir ist nach dem Rausch der Überraschung, nach den betrunkenen Momenten der Erfüllung von vorsichtshalber nicht Erwartetem. Mir ist nach Brüchen in der Moral, nach Illegalität vor dem Hintergrund von Konventionen. Ich möchte mich darin wälzen, meine Moral darüber nicht zu erschüttern. Orte können derartige Paradoxien auf wundervolle Art und Weise versprechen. Und das Seilerhaus kann das ganz besonders gut. Ich stehe also erstaunt und gefesselt, ohne je gebunden zu sein, in einem Raum voller drittklassiger Seile, deren Wert immer noch hoch genug ist, so dass man sich keine Sorgen machen muss. Bräche doch eine Bedrohung der Stille über mich her. Dann taucht aus der Stille plötzlich eine Bedrohung auf. Genauer: Die Stille ist die Drohgebärde des lebendigen Raums. Und Person, die ich nunmal bin, erkunde ich das als Wunsch des Raums: Schreie, Bewege, Befülle mich mit lauter verrückkten Absurditäten. Und ich bürde dem Raum das Versprechen auf, dass dieses Tun die Stille für kurze Momente zum schweigen bringt. Der Seiler ist krank, aber ich weiß nicht wo er ist. Und selbst, wenn ich das wüsste, dann könnte ich ihm nicht helfen. Er wird auf die eine oder andere Art gesund werden und dann wieder seine erstklassigen Seile anfertigen. Hier werden dann wie immer viele Menschen sein, die ihm auf die eine oder andere Art dabei helfen, den Raum mit kleinen, schönen Störungen durchziehen oder etwas anderes tun, um der Stille eben dieses kurze Schweigen abzuringen.

Autor:
Datum: Donnerstag, 25. November 2010 11:21
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Seilerhaus, Staunen und Zweifeln, Worte

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Diesen Artikel kommentieren

Kommentar abgeben

Login erforderlich