Beitrags-Archiv für die Kategory 'Seilerhaus'

Erbarmen

Mittwoch, 6. Juli 2011 1:28

Aber einbrechende Nacht ist so gar nicht, was wir nun erleben. Plötzlich zerreißt die Stille, die selbst keine ruhige Stille war. Durch Risse dringt grelles Licht. Aus dem Innern des Hauses. Nicht von außen. Allen ist in ihrer Lähmung klar, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Nichts für uns Gutes allenthalben. Die Risse werden größer. Seltsame, hoch gewachsene menschliche Gestalten treten hindurch, setzen in gespenstischem Gleichtakt Fuß um Fuß in unsere stillstehende Welt. Eine Figur nach der nächsten. Sie bringen das gleißende Licht mit, das alles Verzehrende. Vor einer verängstigten jungen Frau bleibt eine der Figuren stehen. Man sieht ihr feingliedriges, ebenes Gesicht. Sie lächelt in diesem barmherzigen Lächeln, das man von Heiligenbildern kennt, hält eine dünne Schnur empor. Auch diese Schnur leuchtet, pulsiert. Sie wickelt sich wie von selbst um den Hals der ängstlichen Frau. Mit einem Ausdruck von Güte im Gesicht der Eindringenden fällt der Kopf der jungen Frau auf den Holzboden, im gedämpften Klang. Ihr Körper sackt zusammen und fällt auf Holz und den schmierigen Käse. Unter dem Fuß des Eindringlings kommt ihr Körper zur Ruhe. Regung und Lähmung führen sichtbar in uns allen einen nie dagewesenen Wettstreit während wir sehen, dass einer um den anderen fällt und immer mehr grelle Gestalten auftauchen. “Sie bringen den Stahl”, schluchzt eine mir sehr nahe stehende Gesellin, die ich so oft in die Manufaktur gehen sah. Dann fällt auch sie. Auf mir liegen Seilerhauskörper, im kurzen Aufgenblick entwertet. Stets mit einem Ausdruck der Gnade im Gesicht der Stahlschmiede. Dann betritt sie den Raum. Die Stahlschmiedin. Groß, schlank, mit einem gleichgültigen Gesicht. Ihre liebevolle Stimme erklingt: “Wir werden hier aufräumen.” Sie berührt einige, die noch leben. Wie alle anderen in sich zusammen brachen, so stehen die Berührten auf. Sie tragen unmittelbar eine noch viel schlimmere Leere als all die Toten. Ihre Augen sind von Glanz erfüllt, ihre einst so aufbegehrenden Impulse sind gebunden, ihr Wille gehört augenblicklich ihr, der Stahlschmiedin. Sie folgen ihrer gütigen und ruhigen Handbewegung. All dies kommt mir vor, als erlebte ich Jahre der Lähmung. Rings um mich herum sind Enthauptete und Berührte. Die Stahlschmiedin schreitet majestätisch durch die Reihen, begleitet von ihren grazilen Kämpferinnen, stets das gleißende Licht mit sich bringend. Nach einer erlebten Ewigkeit steht sie vor mir. Mir ist als falle ich tief. Ganz tief in mich zurück. Als sei ich nicht mehr und gerade am entstehen. Ich spüre einen mir zutiefst fremden Wunsch. Möge sie mir auch den Kopf nehmen, mich erlösen, mich nicht des Willens berauben und ausleeren. Jeder meiner Atemzüge soll mein eigener sein. Ich möchte Leben, nicht einfach existieren. Meine Lippen formen in unendlicher Langsamkeit das Wort “Ende”. Sie, die Stahlritterin, aber hält die schlimmste Folter für mich bereit: Erbarmen. Und in diesem Moment werde ich von ihr berührt.

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Der strahlende Ritter Areahakas

Donnerstag, 5. Mai 2011 18:14

Es gab nur einen dumpfen, kleinen Schlag. Ein Miniaturerdbeben ohne dass, nunja, die Erde bebte. Für einen nicht näher definierbaren Bruchteil einer Sekunde, die keineswegs sprichwörtlich war, waren alle in einen unglaublich kurzen Ewigkeitsschlummer, ohnmächtig, getreten. Weg getreten! Wenn auch nur für kurz. Unmittelbar danach breitet sich eine schleichende Stille im Seilerhaus aus. Über das Gefälle der Stimmungen vorher und nachher sind alle so verwundert, dass sie insgesamt auf ihre Weise zu suchen beginnen. Nach kurzem Chaos finden wir heraus, dass die Manufaktur still steht. Einfach so. Dafür gibt es keine Gründe, vielleicht Ursachen, aber die liegen im Nebel, in der augenblicklich anderen Konsistenz—hauptsächlich die des Käses. Das ist kein wünschenswerter Zustand. Die Manufaktur treibt das Haus, seine Stimmung, seine Einwohner, gibt jenen ein Momentum, die Ziele entweder verachten oder wie ich von Zeit zu Zeit und immer häufiger verwerfen. Jetzt bleibt dieser Puls aus, und ich fühle mich nackt. In einem neuen Sinne, denn nackt sein ist im Seilerhaus ja keine Seltenheit ansonsten. Man spürt so etwas wie eine Scham, und ich sehe viele andere, die sich unsicher umsehen. Die jetzt wissen möchten, wie sie denn nun von allen betrachtet werden. In welchem Licht sie erscheinen. Viele sehen so aus, als fragten sie sich, was sie eigentlich hier her verschlagen hat. Als wollten sie fragen: “Du wohnst doch jetzt nicht wirklich im Seilerhaus, oder?” Das äußere Refugium, gleicht einem schlecht gelernten Standardtanz ohne Variation: “Aufwachsen, Irrtum, Repression, Energie, Ausbildung, Heiraten, Arbeiten, Kinder bekommen, Arbeiten, Sterben”, brüllt es mich von irgendwo innen an. Mir gelingt ein Schmunzeln, aber es bleibt mir im Hals stecken. Das AREAHAKAS-Modell mit seinen kaum ausgeprägten Verzierungen, die mir eine längst vergessene Zeit lang als das an sich Individuelle vorgestellt wurden: Jeder darf entscheiden, welche Farbe die Hose hat, solange es eine der richtigen ist (Hose und Farbe, versteht sich). Die Farbe der Rose ist festgelegt. Der Grundablauf von AREAHAKAS auch. Areahakas, das wäre ein klangvoller Bösewicht in einem Roman, oder ein ätzend strahlender Ritter. Oder beides, aber dann auf keinen Fall mehr als Teil eines Romans. “Die Manufaktur, sie steht still”, flüstert einer. Manche haben gerade einem Blick in den Augen, der bereits andeutet: “Ja und?”. Dass mich diese Aussage erschrecken kann, beruhigt mich. Ohne die Manufaktur, scheinen wir alle nicht zueinander zu finden. Fremdartigkeit breitet sich aus. Einige hüllen sich inzwischen fröstelnd in eine Decke. Das Haus wirkt wie eine Ruine, unwirklich und wie ein Ort, von dem man seine Insassen fragen möchte, ob sie denn wirklich dort lebten. Gerade jetzt ist das ein sehr skurile Vorstellung. Der strahlende Ritter ruft mich in seinen ehrenvollen Dienst. Das Haus hat sich jedoch verbarrikadiert. Keiner von uns findet einen Weg hinaus. Wenn sich etwas halbtot anfühlt, dann das. “Wir kommen grad nicht raus”, stellt eine freundliche Stimme fest. Wir Herdentiere! Wir setzen uns nah beieinander, gewähren uns Schutz vor einer Welt, die für uns gerade nur aus Vergangenheit besteht, die uns jetzt ganz unvermittelt bedroht. Wie können wir uns bloß selbst bedrohen? Viele Worte werden nicht gesprochen. Hin und wieder säufzt jemand leise, sieht zu Decke hoch. Es beginnt zu stinken. Dieser widerliche Käse. Der ist überall. Ratlos bleiben wir in einer Zeit gefangen, die wir für die einbrechende Nacht halten.

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Vier Kategorien

Sonntag, 16. Januar 2011 22:56

Ich vermute, dass der Seiler zurück gekehrt ist. Ich wünsche ihm alle gute Besserung, die er in seinem Zustand gebrauchen kann.

Meine Lippe schmerzt noch ein wenig bei bestimmten Gelegenheiten. Wenn ich eine Orange esse, oder wenn mich jemand im Vorrübergehen etwas zu stürmisch küsst und mich nicht genug kennt, um über den Zustand meiner Lippen irgendwelche Annahmen zu machen. Dann tut es ein wenig weh, aber im durchaus freudigen Kontext. Fruchtzucker und Küsse. Grundbedürfnisse. Sie ist heute unterwegs, Espresso brühen. Diesmal hat sie eine Wette verloren und ist außer Haus. Und außer sich, weil sie unglaublich ungern Wetten verliert. Zum Glück hat sie sie nicht gegen mich verloren. In der Manufaktur werden wieder Seile gefertigt. Es riecht nach frischem Käse, nach guter Zunft in den Seilen. Die Manufaktur kenne ich nur aus Erzählungen. Nur die besten Gesellen haben da Zutritt. Es ist fast schon ein magischer Ort im Seilerhaus, der diesen Ruf vermutlich seiner begrenzten Öffentlichkeit zu verdanken hat. Ich habe die Gesellen immer nur stumm in die Manufaktur gehen sehen. Aber sie waren auch unaufgeregt, ausgeglichen. Mir fiele nichts außer dem Seilerhaus selbst ein, dass Menschen so ausgeglichen sein lässt. All die Ausbrüche und Kontexte, all die aufgebrochenen Schubladen und die Welten und Aberwelten, die sich immer wieder neu zusammensetzen. Das Geflecht der Dinge bringt die Dinge hervor, die das Geflecht der Dinge stützen. Das geht eigentlich gar nicht, findet jedenfalls ein nicht ganz unbekannter Mathematiker. Geht ja wohl. Wenn die Manufaktur läuft, dann ist das immer ein unbeschwerter Tag im Seilerhaus. Bis auf einmal, aber das hatte ganz seinerzeit andere Gründe.

Ich lehne mich ein wenig zurück. Es ist noch eine Stunde hin, bis ich an den Seilen erwartet werde. Ich darf mich heute mal wieder daran versuchen und probiere verschiedene Bewegungen aus, damit ich auf dem Weg dorthin auch ein wenig so aussehe, wie die Gesellen bevor sie die Manufaktur betreten. Bei mir sieht es aber so aus als ob. Da müssen natürlich noch einige Geheimnisse gelüftet werden. Ich gebe den Versuch vorerst doch auf. Mir wird die Haltung schon zuteil werden, sobald es dann soweit ist.

Statt dessen beschließe ich die Philosophierenden aufzusuchen. Das sind keine Philosophen. Aber genau das macht diese seltsame Gruppe aus, die auf allzu entspannte und gleichsam nicht zu methodenbeladene Art über ihren Alltag möglichst bedeutungsschwanger nachdenken möchte. Reine Kopf-Rückkopplung, nicht anstrengend aber hinreichend anregend. Ich erfahre, dass die Welt fest in vier eigenständige Kategorien eingeteilt sei. Welche es diesmal sind, vergesse ich sofort wieder weil ich meine Aufmerksamkeit dazu gebrauche, meinen Kopf relevant nicken zu lassen. Ab und zu wiege ich ihn auch hin und her um zu signalisieren, dass ich nicht sicher bin, ob ich an dieser Stelle auch widerstandsfrei zustimmen will. Insgesamt führt dieses Verhalten dazu, dass man mich einerseits willkommen heißt und andererseits in Ruhe lässt, auch wenn ich keine eigenen großen Ergüsse beizutragen habe. Heute fühle ich mich da wohl. Ich bin in Gesellschaft. Es ist andererseits nicht schlimm, wenn ich abschweife oder gar nicht bei der Sache bin. Denn es geht um nichts. Man müsse etwas leerer werden als in unseren Kreisen üblich. Im Kopf. Das hat mir mal ein Geselle gesagt. Es sei andererseits falsch, sich etwa mit Meditationstechniken in einen Zustand möglichst völliger Leere zu versetzen. Ein von uns bereits selten erreichtes Mittelmaß an Ausleerung wäre genau geeignet. Ich versuche daher Situationen aufzusuchen, die mir über ihren zeitlichen Verlauf hinweg möglichst viele Freiheiten in Richtung Leere oder Anregung erlauben. Zur Zeit scheint mir die Gruppe diese engagierte Gruppe der Philosophierenden zu diesem Zweck besonders geeignet. Die vierte Kategorie sei besonders wichtig, bleibt mir im Gedächtnis, weil man ja sonst immer drei angenommen hatte und schließlich immer noch was übrig bliebe.

Irgendwann entschuldige ich mich und gehe wieder. Irgendwas hat mich gestört und aufgeregt: Nicht gut für die Leere. Noch ein paar orientierungslose Minuten verstreichen. Dann tauchen Meine Hände in den Käse und in die neu geformten Seile. Langsam, vorsichtig, immer eine Vorstellung in den Händen spürend. Durfte ich doch inzwischen bei einigen Gelegenheiten die Meisterwerke aus erster Hand bestaunen. Aber es ist ein übler Trick, den mir der Verstand da spielt. Einerseits gibt es da dieses perfekte Modell, andererseits sind weder Verstand noch Motorik in der Lage, dem auch nur annähernd nachzueifern. Bleibt mir eine Art Hoffnung: Eines Tages. Beim Wetteifern merke ich nicht, wie die Stunden verstreichen. Später am Tag sehe ich den Seiler aus der Manufaktur kommen. Er muss sich gerade geschnitten haben und macht nun eine Pause. Er sieht mich kurz an, sagt: “gut gemacht.” Ich habe keine Ahnung, auf was er das bezieht. Hatte er Gelegenheit, meine Arbeit zwischendurch zu sehen? Hat er mich mit jemandem verwechselt? Ich danke schnell, bevor er schon wieder weg ist und gehe mit einem guten Gefühl—während der Abend über das Seilerhaus fällt.

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Nadel und Farbe

Donnerstag, 2. Dezember 2010 14:10

Es sind inzwischen wieder Menschen im Seilerhaus. Im üblichen Umfang, viele Menschen. Ich höre sie auch wieder lachen und schreien; und beides. Sie zieht mich in einen kleinen, dunklen Raum, den ich noch nie betreten habe und der mir auch noch nicht aufgefallen war. Blitzartig bindet sie meine Hände auf den Rücken, so dass die Handrücken aneinander liegen und die Finger zwischen den Schultern nach oben zeigen. Dann zeigt sie mir die Farben. Es seien die Farben der Zeit, bedeutet sie humorvoll. Ich sehe verschiedene Grüntöne, Orange dazwischen, weiß, verschiedene Erden. Eine kleine Nadel kratzt über meine Lippen während ich zu ergründen versuche, wo die Farben herkommen und was sie mir erzählen. Sie hat die Essenz des Seilers getrunken, sagt sie. Lacht vergnügt und etwas überdreht auf, streift mich im Vorrübergehen. Kurze, winzige Farbeindrücke, mehr kann ich nicht erkennen. Sie sagt nun nichts mehr. Hin und wieder spielt etwas warmes Metall vor meinem Mund. Kaum verletztend, bloß eine Andeutung, was wäre, wenn etwas wäre, weil etwas wäre, wodurch etwas würde. Ich gleite aus, lande unsanft auf dem Boden. Sie hat mich nicht gestoßen. Etwas Luft entweicht den Lungen beim Aufkommen, was kein Aufprall ist: Die Seile auf dem Grund sind weich. Sie müssen aus der besten Zeit des Seilers stammen, weil sie so gut gebunden sind. Es sind Meisterwerke. Zusammen mit den gelegentlichen Farbblitzen, die ihre Bedeutung vielleicht weit jenseits meiner Interpretation entfalten bildet die Anwesenheit von solcher Kunstfertigkeit, gleichzeitig von ihr, von bloß etwas zu wenig Farbe um überhaupt etwas zu sehen. Eine seltsame Sinnesverwirrung, auf die ich mich stürze, weil sie eben einen Moment abbildet, an dem die Stille schweigt. Klänge gibt es keine. Ich höre nichtmal meinen Atem. Ich spüre dieses Objekt, das ich immer noch für eine Nadel halten muss; gerade zwischen etwas schmeichelhaft Sanftem und etwas in seinem Ausdruck Hartem gefangen. Mir ergibt sich ein Moment der Undefiniertheit jedwelcher Umgebung. Und zwar nicht als dümmlich-intellektuelle Kakofonie, sondern als direkt Begreifbares. Und zwar gleichzeitig. Mir fällt noch ein, dass das irgendwie paradox sein dürfte. Ich muss breit grinsen, weil mir, sonst ein Mensch der Symbole und der Sprache, die Bezüge—und das bedeutet: die Begriffe selbst und nicht die Zeichen—abhanden kommen. Mir fällt dabei kurz auf, wie leicht so ein Moment herzustellen, besser gesagt: zu schenken ist. Wie einfach sich zwei oder mehrere nahezu beliebig zusammengewürfelte Menschen diesen berauschenden Wahnsinn schenken können. Und das vor dem Hintergrund, wie viele diesen ästhetischen Abgrund suchen und ihn sich bei jeder nahenden Gelegenheit immer wieder verweigern. Ich falle zurück in das große Geschenk, das mir gerade zu Teil wird. Konkretion, Enaktion, Ergo anstelle von Heureka. Es brennt und kitzelt auf meiner Lippe und ein Muster ist den Lichtblitzen beim besten Willen nicht zuzuordnen. Hier und da streift sie mich, unregelmäßig und zugleich beständig. Das hält mich davon ab, in mittelmäßigen Interpretationswolken zu verschwinden, was zwar auch eine schöne Betätigung ist. Aber bei weitem nicht erfüllender als dieser Moment. Dann ist sie ganz plötzlich da. Ursprünglich und wild. Direkt und vor allem fern jeder Frage. Nimmt sich von mir, was in diesem Moment schon aus bloßem Anstand ihr gehören müsste. Ich frage nichts mehr und lasse mich in ihren Puls sinken, der mich fängt, wie ich noch nie gefangen wurde. Ohne Widerstand, aber stark aufbrausend, weil das entweder meine Natur ist oder mir irgendwann (eher früh) klar wurde, dass diese Variante der Entgegnung hinreichend häufig auf viel Erfüllung im Gegenüber stößt. Synchron fährt zwischen den Anstößen und Hindernissen diese Nadel etwas tiefer in meine Lippe, so taktvoll zur Sekunde des völligen Verrücksteins, dass die Sinneskategorien selbst zu etwas verschmelzen, was mir bis dahin nicht begegnet war. Es fehlt eine Kategorie des Konkreten in einem Augenblick, der mir ansonsten ja als Mensch und Säugetier direkter kaum begegnen kann.

Nach einer genussvollen Ewigkeit trete ich vor die Tür. Tiefe Dankbarkeit drängt sich in den Vodergrund erlebter Welt, die so viel reicher ist als die bloß erträumte. Diese Dankbarkeit verdrängt einerseits das Ursprüngliche und fädelt die Welt—wie auch nach vielen anderen Gelegenheiten—wieder in mich hinein. Ich war bis hierhin jedoch nie der Dankbarkeit dankbar. Der Gedanke scheint mir nun gar nicht mehr so absurd. Das Licht blendet, und es ist ja doch nur das gedämpfte milchige Glimmen im Seilerhaus. Ein paar Menschen meinen Alters huschen kichernd vorbei. Mir fehlt zur Stunde die Phantasie um mir vorzustellen, was sie anderes erlebt haben. Es mag wohl von besonderer Intensität gewesen sein. Ich schlendere gemütlich nach oben. Dort begegnen mir Menschen, die irgendwie tief in mich hineinschauen und ein paar meiner Symbole herausreißen. Menschen, die sich etwas von meinem Wissen vermitteln. Warum auch immer sie das haben wollen. Ich lasse sie gewähren und schenke ihnen ein Lächeln. Ein tiefer Ton kündet vom Manufakturenraum. Es werden wieder neue Seile gefertigt.

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Schweigen der Stille

Donnerstag, 25. November 2010 11:21

Es war ungewohnt still geworden im Seilerhaus. Viele Menschen waren nicht da. Der Seiler war krank geworden, und das hatte seinen Einfluss. Die Seile waren dann ungewohnt trocken und konnten insgesamt für nur sehr wenige Aufgaben verwendet werden. Aber es kamen eben immer noch aus dem Haus des Seilers. Und das war nicht irgendwas. Selbst in dieser kaum verwendbaren Güte waren sie immer noch besser als so manch’ andere Alternativen. Die Räume scheinen heute größer. Vielleicht, weil niemand da ist—obschon sie ja kleiner als heute erscheinen. Selbst wenn jemand in einem anderen Raum ist und ich im Grunde doch gelegentlich allein in einem Raum bin. Das sind selstame metaphysische Unterschiede. Die Wirkung der Raumgrößen ist abhängig von der gewähnten Nähe unsichtbarer Gesellschaften, jener Ansammlungen von Personen von vielfach verschiedenen definierter Funktion. Hätte ich Gelegenheit dazu, dann würde mir jetzt ein wenig übel werden. Eigentlich ist der permanente Käsegeruch aus den Abstreifungen der Seile außerhalb von diesem Ort sicher kaum zu ertragen. Hier gehört er irgendwie dazu. Der Ort wäre fade ohne den Geruch. Und natürlich färbt er auch alle anderen vielfachen Gerüche, sobald Menschen da sind. Mehr noch: Er bestimmt auch, mit welchen Gerüchen die Menschen sind einkleiden. Die meisten der hier sonst anwesenden, sind Düften und Gerüchen gegenüber sehr aufgeschlossen. Das ist ein unsichtbares, raumfüllendes Moment. Es fehlt nun. Die trockenen Seile, die mich traurig an die Krankheit des Seilers erinnern, der Käsegeruch alleine und das Fernbleiben der gewohnten und eben auf das ganze Seilerhaus und seine verschrobenen Insassen zurechtkomponierten Düfte. Für den Moment scheint mir das als erklärende Ursache genug für die Wirkung der größeren Räume. Ich drehe mich kaum zehn Grad nach links, tippe zweimal mit der Schuhspitze, Blick an die Decke und an den Boden. Dem Raum allein fehlt es an Eleganz, wie ich meine. Er birgt zwar ein Stück zu Hause in dem komplexen Geflecht, das seine Erscheinung und meine inzwischen zahlreichen Erinnerungen bieten, aber er ist doch nicht wirklich zu Hause.

So, als käme man nach Jahren einmal in das die Wohnung oder das Haus zurück, das man zu Kindertagen einmal intensiv bewohnt hatte und dem man eine zeitlang irgendwie traurig hinterhergeträumt hat. Ich warte ab, ob mir der Raum nicht einfach so eine Geschichte erzählt. Als eigentlicher Hintergrund, die spannende Bewegung der Kulisse. So, wie in dem Film Koyaanisqatsi etwa. Aber ich habe keinen menschlichen Zeitraffer eingebaut. Oder besser: der ist invers aktiv. Wenn viel passiert, dann ist der an. Wenn wenig passiert, dann gilt die Zeitlupe. Also lausche ich den ehrwürdig langsamen Bewegungen, dem Atmen von Objekten. Es vergeht sehr viel gefühlte Zeit. Die Muster sind kaum erkennbar. Mir scheint aber, als entdecke ich in dieser langsamen Bewegung einen Impuls, gerade zu wenig, um ein echtes Muster zu sein. Für heute soll meine Erklärung ausreichen, dass Personen (per sona, und so weiter) diesem Impuls etwas entgegen setzen müssen, um ihrerseits substantiell etwas davon mitzunehmen. Ich habe eine ganz einfache und sehr oberflächlich erscheinende Interaktion zwischen dem Raum und der Person entdeckt. Ein Grundprinzip der Resonanz. Der Klang (per sona) breitet sich nicht ohne einen Körper aus, genauer: nicht ohne einen Hohlraum. Und dieser Resonanzkörper hat es in sich, hat wie bei einem expertisereich gespielten und geliebten Instrument ein so bewundernswertes Eigenleben, das es mir schwerfällt den Klang (per sona) vom Raum (locatio) zu trennen. Ich habe also mit offenen Augen, Ohren und Nase, frei in den Raum hinein-halluziniert. Das Seilerhaus hat sich mit einer Erkenntnis bedankt, die mir ohne seine Intensität zu schwach zum Bemerken und zu vage zum Begreifen gewesen wäre. Ob der Raum selbst oder meine Erinnerungen der Umgebung diesen Ausdruck verliehen haben, verschließt sich meinem Verstand. Meine Intuition möchte das mal so herum, mal anders herum interpretiert wissen. Je nach Laune: Ganz Intuition eben.

So stehe ich hier frei, und werde doch von meinem aufkeimenden Bedürfnis nach deutlich weniger subtilen Impulsen gefesselt. Der Raum bindet mich durch meine Erwartung, die er für mich erfüllen soll, und der er an sich nicht entsprechen kann. Wären auch nur zwei von uns hier drin, so wäre die Komplexität schon nicht zu überbieten. Mir ist nach dem Rausch der Überraschung, nach den betrunkenen Momenten der Erfüllung von vorsichtshalber nicht Erwartetem. Mir ist nach Brüchen in der Moral, nach Illegalität vor dem Hintergrund von Konventionen. Ich möchte mich darin wälzen, meine Moral darüber nicht zu erschüttern. Orte können derartige Paradoxien auf wundervolle Art und Weise versprechen. Und das Seilerhaus kann das ganz besonders gut. Ich stehe also erstaunt und gefesselt, ohne je gebunden zu sein, in einem Raum voller drittklassiger Seile, deren Wert immer noch hoch genug ist, so dass man sich keine Sorgen machen muss. Bräche doch eine Bedrohung der Stille über mich her. Dann taucht aus der Stille plötzlich eine Bedrohung auf. Genauer: Die Stille ist die Drohgebärde des lebendigen Raums. Und Person, die ich nunmal bin, erkunde ich das als Wunsch des Raums: Schreie, Bewege, Befülle mich mit lauter verrückkten Absurditäten. Und ich bürde dem Raum das Versprechen auf, dass dieses Tun die Stille für kurze Momente zum schweigen bringt. Der Seiler ist krank, aber ich weiß nicht wo er ist. Und selbst, wenn ich das wüsste, dann könnte ich ihm nicht helfen. Er wird auf die eine oder andere Art gesund werden und dann wieder seine erstklassigen Seile anfertigen. Hier werden dann wie immer viele Menschen sein, die ihm auf die eine oder andere Art dabei helfen, den Raum mit kleinen, schönen Störungen durchziehen oder etwas anderes tun, um der Stille eben dieses kurze Schweigen abzuringen.

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Veränderungen im fünften Stock

Dienstag, 10. August 2010 14:11

Es wird etwas verändert im fünften Stock. Ich höre eindeutig Werkzeug, Hämmer vor allem. Niemand sonst scheint es zu bemerken. Genau genommen lassen es sich alle nicht anmerken. Der Seiler lässt mich rufen, in den dritten Stock. Selbstverständlich folge ich dem Ruf. Ich soll zum ersten Mal beim Knüpfen helfen. Das ist für mich eine große Ehre, sind meine Hände doch immer noch so ungeschickt an den frischen Seilen. Bei ihm angekommen, erzählt er mir Belanglosigkeiten, ineressiert sich nicht sonderlich für das Geknüpfte. Das ist eine Ablenkungstaktik. Aber es ist unhöflich, den Seiler zu unterbrechen. Also höre ich zu und knüpfe. Besonders die Knoten gelingen mir heute nicht, und den Seiler interessiert das nicht wie ihn das sonst interessieren würde. Üblicherweise regt er sich ziemlich auf. Auch er reagiert nicht auf die Veränderungen im dritten Stock. Ich knüpfe eine halbe Ewigkeit bis meine Hände schmerzen. Das Handwerk ist mir noch merklich neu. An die dreißig Seile gelingen mir trotz meiner Tollpatschigkeit. Der Seiler nimmt sie auf, begutachtet sie wohlwollend, sieht mich an und sagt: “Das hat der Peter gut hinbekommen, wir müssen stolz auf ihn sein”. Ich will entgegnen, dass ich doch derjenige war, der, zugegebenermaßen mit reichlich Ungeschick bei den restlichen Versuchen, diese Seile geknüpft habe. Ganz allein und vor seinen Augen. Doch man widerspricht dem Seiler nicht. Schon gar nicht im Seilerhaus. Und kurz darauf schlendert Peter vorbei. Freut sich, lacht, zeigt auf seine Seile, guckt den Seiler an. “Hab’ ich diesmal doch wieder gut hinbekommen. Man stell’ sich das vor, fast hätte Marie diese Seile für ihre eigenen ausgegeben. Das nervt jedes Mal.” Ich weiß nicht so recht, ob das geplant war oder einfach nur zufällig die ganze Szene völlig falsch abgebogen ist. Ich lache, fast sogar laut, und sehe zu, wie Peter meine Seile auf dem Rücken wegträgt. Auch der Seiler erhebt sich von seinem großen Stuhl und geht durch eine der zahlreichen Türen aus dem großen Raum. Das Werkeln im fünften Stock hat inzwischen aufgehört. Es ist wohl nicht fertig, sie werden morgen weiter werkeln. Warum ich nicht hoch darf, erfahre ich nicht. Ich gehe in den ersten Stock, sehe ein paar Neuankömmlinge. Sie blicken ehrfürchtig zum kleinen Portrait des Seilers hoch, das jemand ohne das Wissen und die Zustimmung des Seilers dort aufgehängt hatte. Sie haben ihr Bündel dabei. Auf in den dritten Stock. Ich beschließe ein paar von ihnen zusammen zu trommeln und ihnen eine Geschichte aus dem Seilerhaus zu erzählen. Sie blicken erstaunt und etwas verwirrt. Manche wollen lieber gleich loslegen. Mit den Seilen oder auch mit dem quälen oder gequält werden. Nicht alle, die hier sind, sind so. Aber doch überraschend viele. Zwei bleiben bei mir und verwöhnen mich mit einem Bad in Rote Beete Milchschaum. Die Säure des Safts dringt unter meine Haut, kippt leicht über die Schmerzgrenze. Das Bad und die Begleitung sind jedoch zu angenehm, um jetzt aufzuhören. Ganz hingeben kann ich mich nicht. Ich runzle die Stirn, und meine Gedanken verfangen sich wieder im Fünften. Da habe ich schonmal Flaschen gestapelt, eine ganze Mauer. Mir scheint, dass dort oben keine Flaschen mehr gestapelt werden. Etwas ganz anderes wird installiert. Säure unter der Haut. Ich blicke in tiefschwarze Augen und ein berechnetes Lächeln. Es ist sehr gut berechnet, denn es trifft trotz, dass mir die Fassade auffällt. Nun lasse ich mich doch ein wenig fallen.

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An der Decke laufen

Mittwoch, 4. August 2010 15:56

Es ist gerade eben etwas ruhiger geworden im Seilerhaus. Viele Menschen sind rausgegangen am Tag. Sie werden wieder kommen. An den Wettbewerb—und insbesondere an diese absurden Würstchen—erinnere ich mich nun kaum noch. Andere Eindrücke haben sich verstärkt. Soeben bin ich im vierten Stock angekommen. Dort helfe ich dem Seiler all die Seile an der Decke zu befestigen. Er macht dies ganz kunstvoll, als eine interaktive Installation. Sobald wir fertig sind, kann man an der Decke laufen. Die Seile halten einen fest. Trotz der Schritte, die sich immer wieder aus den Ankern lösen, die so gar nicht wie Fesseln wirken wollen. Ich bin der Erste, der die Installation ausprobieren darf. Ich schwinge mich, wie einst an den Ringen, zum Handstand empor und lasse die Installation meine Füße greifen. Das Blut schießt mir in den Kopf. Das hilft mir nicht gerade bei der Orientierung. Die Schritte sind noch etwas ungelenk. Es ist seltsam, an der Decke zu laufen. Die Seile halten, und der Seiler sieht bärtig zu mir herauf und nickt wohlwollend. Ich erkunde den bekannten Raum, der ansonsten leer ist. Altes Holzparkett, das viel zu wenig gepflegt wurde und zu oft den Essenz-Attacken des Hauses ausgeliefert war, steht mir als Boden entgegen, der mal eben zur Decke wurde. Es ist wie die Treppen voll mit den Resten vom Käse, der die Seile schmiert. Der Seiler selbst hat mal wieder ganze Arbeit geleistet. Ich falle nicht und doch kann ich mich frei bewegen. Das Gefühl der Seile um die Füße und Waden ist etwas seltsam. Auch weiß ich nicht, wie ich da eigentlich genau festgehalten werde, d.h. warum die Seile genau halten. All das ist Teil dieser seltsamen Installation. Schon allein aus dem Abenteuer heraus werden es die Besucher später lieben, sich ein wenig hängen lassen und einen ganz anderen Perspektivenwechsel erleben. Ich merke, dass die kunstvoll gestaltete Installation selbst bei diesem Erlebnis (leider) fast nebensächlich wird. Das Handwerk lässt mich hängen und die Form und Ausgestaltung sehe ich genau genommen nur, wenn ich aus den Rahmen der Installation selbst wieder austrete. Dieser Umstand an sich ist faszinierend: Ich kann es nur verstehen, indem ich es gerade nicht erlebe. Und anderes herum. Lange halte ich das nicht durch. Mir fehlt das Training, so lange das Blut im Kopf zu ertragen. Yogi müsste man jetzt sein, denke ich, dann hätte man alle Zeit der Welt hier oben, unten, dort eben. Als ich es will, gleite ich an einem schräg hängenden Seil nach unten. Der Seiler ist längst weg und widmet sich anderen Vorhaben. Ich bleibe noch ein wenig in dem Raum. Das ist meine einzige Chance, diesen Ort so ganz für mich allein zu haben, und das genieße ich noch für ein paar schöne Augenblicke.

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