Erbarmen
Mittwoch, 6. Juli 2011 1:28
Aber einbrechende Nacht ist so gar nicht, was wir nun erleben. Plötzlich zerreißt die Stille, die selbst keine ruhige Stille war. Durch Risse dringt grelles Licht. Aus dem Innern des Hauses. Nicht von außen. Allen ist in ihrer Lähmung klar, dass das nichts Gutes bedeuten kann. Nichts für uns Gutes allenthalben. Die Risse werden größer. Seltsame, hoch gewachsene menschliche Gestalten treten hindurch, setzen in gespenstischem Gleichtakt Fuß um Fuß in unsere stillstehende Welt. Eine Figur nach der nächsten. Sie bringen das gleißende Licht mit, das alles Verzehrende. Vor einer verängstigten jungen Frau bleibt eine der Figuren stehen. Man sieht ihr feingliedriges, ebenes Gesicht. Sie lächelt in diesem barmherzigen Lächeln, das man von Heiligenbildern kennt, hält eine dünne Schnur empor. Auch diese Schnur leuchtet, pulsiert. Sie wickelt sich wie von selbst um den Hals der ängstlichen Frau. Mit einem Ausdruck von Güte im Gesicht der Eindringenden fällt der Kopf der jungen Frau auf den Holzboden, im gedämpften Klang. Ihr Körper sackt zusammen und fällt auf Holz und den schmierigen Käse. Unter dem Fuß des Eindringlings kommt ihr Körper zur Ruhe. Regung und Lähmung führen sichtbar in uns allen einen nie dagewesenen Wettstreit während wir sehen, dass einer um den anderen fällt und immer mehr grelle Gestalten auftauchen. “Sie bringen den Stahl”, schluchzt eine mir sehr nahe stehende Gesellin, die ich so oft in die Manufaktur gehen sah. Dann fällt auch sie. Auf mir liegen Seilerhauskörper, im kurzen Aufgenblick entwertet. Stets mit einem Ausdruck der Gnade im Gesicht der Stahlschmiede. Dann betritt sie den Raum. Die Stahlschmiedin. Groß, schlank, mit einem gleichgültigen Gesicht. Ihre liebevolle Stimme erklingt: “Wir werden hier aufräumen.” Sie berührt einige, die noch leben. Wie alle anderen in sich zusammen brachen, so stehen die Berührten auf. Sie tragen unmittelbar eine noch viel schlimmere Leere als all die Toten. Ihre Augen sind von Glanz erfüllt, ihre einst so aufbegehrenden Impulse sind gebunden, ihr Wille gehört augenblicklich ihr, der Stahlschmiedin. Sie folgen ihrer gütigen und ruhigen Handbewegung. All dies kommt mir vor, als erlebte ich Jahre der Lähmung. Rings um mich herum sind Enthauptete und Berührte. Die Stahlschmiedin schreitet majestätisch durch die Reihen, begleitet von ihren grazilen Kämpferinnen, stets das gleißende Licht mit sich bringend. Nach einer erlebten Ewigkeit steht sie vor mir. Mir ist als falle ich tief. Ganz tief in mich zurück. Als sei ich nicht mehr und gerade am entstehen. Ich spüre einen mir zutiefst fremden Wunsch. Möge sie mir auch den Kopf nehmen, mich erlösen, mich nicht des Willens berauben und ausleeren. Jeder meiner Atemzüge soll mein eigener sein. Ich möchte Leben, nicht einfach existieren. Meine Lippen formen in unendlicher Langsamkeit das Wort “Ende”. Sie, die Stahlritterin, aber hält die schlimmste Folter für mich bereit: Erbarmen. Und in diesem Moment werde ich von ihr berührt.
Thema: Seilerhaus, Worte | Kommentare (0) | Autor: Pablo Pirnay-Dummer