Das Archiv

Der Großgoldige legte eine Pause ein. Es war kein leichter Job. Immer hin und her zwischen Beschwörungsformeln und Unverwundbarkeitstränken, zwischen historischem Müll und leeren Phrasen. Vollkommen überflüssig, wie er fand, denn die Öffnung der dreizehn Logen und deren Einzug in die Politik vor vielen hunderten von Jahren hatte die Rüstungsindustrie zerschlagen und damit den Nutzen von größeren Formen des Krieges überflüssig gemacht. Aber man konnte ja nicht wissen. Schließlich waren es ja immer noch alles Menschen.

Der Pavillon hatte vor drei Wochen eine fünfbändige Vorschrift herausgegeben, die eine einheitliche Archivierung von Barax-7 und Barax-11 Dokumenten vorschrieb. Dies waren im wesentlichen Dokumente einer alten Naturreligion, welche den interessanten Namen “Wissenschaft” trägt und ein paar unbedeutende historische Aufzeichnungen. Der Großgoldige wußte, daß es bis zu dem Tag noch Gruppierungen gab, die versuchten, die alten Ideale dieser Religion aufrecht zu erhalten. Leider konnte er nicht mehr weiter stöbern, denn er wollte Feierabend machen – und für ihn hieß Feierabend den Rest der Zeit mit seinen beiden Lustsklavinnen zu teilen, die ihm der Pavillon in seiner Position als Großgoldiger zugesprochen hatte. In seinem Amt, das als Relikt einer großen Zeit galt, hatte er einige Privilegien – auch wenn er heute nur noch im Archiv arbeiten durfte. Aber es war ja nicht irgendein Archiv. Viele Menschen hätten sich sicher nicht sehnlicher gewünscht, als hier zu arbeiten. Die ganze Zeit in Zeiten voller Vergangenheit zu verbringen! Hier im Renowai 13 Archiv.

Er empfand es als sehr befriedigend, auf alte Kulturen zurück oder auch hinabzublicken um zu sehen, wie sehr man doch in der Zwischenzeit gewachsen war. “Mit meinem Wissen, wäre ich bestimmt ein Herrscher geworden”, dachte sich der Großgoldige und klappte das Buch endgültig zu. Er hatte etwas gelesen über große Rituale der “Wissenschaftler” – so bezeichneten sich die Gefolgsleute dieser zutiefst esoterischen Religion. So erachteten sie es als wichtig, viele kleine Zahlen untereinander zu schreiben, dann mit primitiven Verfahren etwas auszurechnen, um dann einem Ergebnis zu kommen, das sie sich vorher schon ausgedacht hatten. Zu einem fast hellseherischen Ergebnis. Interessant daran war vor allem, daß auch schon die Wissenschaftler über eine primitive Art der Numerologie verfügten. Die Rechnungen, die sie erstellten, ergaben in den meisten Fällen überhaupt keinen Sinn, das würde heutzutage jeder Schüler sehen. Dennoch wurde detailgenau beschrieben, wie bei diesen Ritualen vorgegangen wurde. Zusammengetragen wurde alles auf wertvollen Schriftrollen, die aus einer Art Holzqualität gegossen wurden. Nun ja, heute würde man Holz nicht mehr gießen, man denke nur an die gefährdete Aura der Pflanzen, wenn sie nach Ihrem Tod gegossen würden, was gar nicht ihrem Naturell entspricht. Damals aber hat man zweifelsohne solche Dinge getan.

Als der Großgoldige am Abend nach Hause ging, da wollte sich ihm die Kurzweil mit seinen willigen Sklavinnen nicht einstellen. Immer wieder dachte er an die alte und seltsame Religion und überlegte sich, wie es wohl gewesen sein mochte, ein Wissenschaftler zu sein. Er beschloß sehr bald, zurück ins Archiv zu gehen, sehr zum Bedauern seiner beiden ewigen Begleiterinnen, die sich nur für ihn ein Abendprogramm zurechtgelegt hatten. Er las mehr und fand heraus, daß es viele verschiedene Sekten gab, die von Zeit zu Zeit über ihre Rituale stritten. Manche meinten, sie könnten zur Wahrheit gelangen, in dem sie einfach nur dauernd Kaffeekränzchen abhielten, andere wiederum verfolgten jene numerologischen Betrügereien, über die der Großgoldige bereits gelesen hatte. Er erfuhr darüber, wie wichtig es war, daß eine Überzeugung richtig war und eine andere falsch und daß man darüber innerhalb der Sekten immer Loyalität zu wahren pflegte. Es gab eine Ansammlung von Patriarchen, die sie dezentral organisiert hatten. Sie waren eine einfache und nicht magische Variante eines Questoren, also eines den Priestern und Hohepriesterinnen unterstellten Ratgebers. Diese Vorform der Questoren führte die Wissenschaft an. Sie galten in ihrer jeweiligen Sekte als unfehlbar, mußten aber achtgeben, weil sie das Hauptziel der Attacken anderer Sekten waren. Auf das tiefste beeindruckend war, daß trotz der hohen Machtstellung der Questoren, die Politik von der Religion getrennt gehalten wurde.

Der Großgoldige hielt ein wenig inne. Er dachte an die Verschwendung menschlicher Ressourcen, wenn man nur entweder Magie betreiben oder aber regieren durfte. Kaum vorstellbar. Die Wissenschaft brachte ihre Jünger sogar dazu, ihr primitives Prinzip der Numerologie darauf auszudehnen, wer sie alle regieren sollte. Bei einem großen und mystischen Ritual, genannt “die Wahl”, wurden nach unterschiedlichen Vorgehensweisen Menschen ernannt, die fortan regieren sollten. Ohne dass sie das in irgendeiner Weise gelernt hätten oder durch einen Priester darauf vorbereitet wurden. Dieses Vorgehen wurde dann letztlich als der finale Grund bekannt, warum diese einst so groß gewachsene Kultur untergehen mußte. Von unfähigen Menschen regiert, stürzten sich die Wissenschaftler in die Klinge, die sie selbst geschmiedet hatten.

Voller Spannung blickte der Großgoldige auf. Er hatte ja nicht im Traum daran gedacht, wie spannend diese Zeit war. Inzwischen war es sehr spät und es begannen die Chuarama-Stunden. In diesen Stunden war es den Priestern und Hohepriesterinnen vorbehalten, die Außenwelt zu durchwandern. Er würde hier also noch einige Zeit festsitzen. Er sah sich noch eine Schrift weit vor dem Untergang der Wissenschaft an. Zuvor hatte nämlich die Wissenschaft nahezu alle anderen Religionen aus ihrem Wirkungskreis verbannt. Im Gegensatz zu diesen vielzähligen Religionen, die mit Gottbildern und anderen maximal ikonischen Darstellungen arbeiteten, hatte es sich die Wissenschaft zum Ziel gemacht, alle anderen Religionen als Irrglaube auszuweisen.
Letztlich obsiegten die Wissenschaftler durch geschicktes Überreden und durch eine bemerkenswerte Rhetorik und wurden die einzige ernst genommene und ernst zu nehmende Religion ihrer Zeit. Doch es war auch dieses Verhalten der Wissenschaft, das fast zur Ausrottung der ganzen Menschheit in den Geisterkriegen führte – ein tragisches Ende für eine so hoffnungsvolle und junge Kultur.

Die Chuarama-Stunden waren nun fast vorbei und der Großgoldige überlegte sich, ob es nicht doch besser wäre nun in seine privaten Räume zu wechseln. Als er wieder hinaus durfte, folgte er seinem eigenen Rat und schlief noch ein paar Stunden. Er deaktivierte seine Sklavinnen. Aus nostalgischen Gründen tat er das immer nachts. Er wollte in Ruhe schlafen, ohne dauernd von Androiden belästigt zu werden, auch wenn sie bildschön waren und die besten Modelle, die man bekommen konnte. Sie murrten immer ein wenig, aber der Großgoldige erzählte Ihnen eine Legende von der Wissenschaft und daß Androiden damals noch ohne Magie funktionierten. So fügten sie sich ihm. Was sollten sie auch anderes tun – schließlich waren sie ja als Sklavinnen konzipiert worden. Nach einem langen Tag und einer halben Nacht voll spannender Lektüre fiel der Großgoldige in einen sanften Schlummer. Dieser wurde alsbald vom zu wirken beginnenden Schlafzauber, den er immer selbst ausprach, in einen tiefen und festen Schlaf verwandelt. Um nichts in der Welt würde er diese Zeit gegen eine andere eintauschen – auch dann nicht, wenn sie so spannend ist, wie die der Ära der Wissenschaft.

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Datum: Samstag, 24. Februar 2007 11:42
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