Veränderungen im fünften Stock
Dienstag, 10. August 2010 14:11
Es wird etwas verändert im fünften Stock. Ich höre eindeutig Werkzeug, Hämmer vor allem. Niemand sonst scheint es zu bemerken. Genau genommen lassen es sich alle nicht anmerken. Der Seiler lässt mich rufen, in den dritten Stock. Selbstverständlich folge ich dem Ruf. Ich soll zum ersten Mal beim Knüpfen helfen. Das ist für mich eine große Ehre, sind meine Hände doch immer noch so ungeschickt an den frischen Seilen. Bei ihm angekommen, erzählt er mir Belanglosigkeiten, ineressiert sich nicht sonderlich für das Geknüpfte. Das ist eine Ablenkungstaktik. Aber es ist unhöflich, den Seiler zu unterbrechen. Also höre ich zu und knüpfe. Besonders die Knoten gelingen mir heute nicht, und den Seiler interessiert das nicht wie ihn das sonst interessieren würde. Üblicherweise regt er sich ziemlich auf. Auch er reagiert nicht auf die Veränderungen im dritten Stock. Ich knüpfe eine halbe Ewigkeit bis meine Hände schmerzen. Das Handwerk ist mir noch merklich neu. An die dreißig Seile gelingen mir trotz meiner Tollpatschigkeit. Der Seiler nimmt sie auf, begutachtet sie wohlwollend, sieht mich an und sagt: “Das hat der Peter gut hinbekommen, wir müssen stolz auf ihn sein”. Ich will entgegnen, dass ich doch derjenige war, der, zugegebenermaßen mit reichlich Ungeschick bei den restlichen Versuchen, diese Seile geknüpft habe. Ganz allein und vor seinen Augen. Doch man widerspricht dem Seiler nicht. Schon gar nicht im Seilerhaus. Und kurz darauf schlendert Peter vorbei. Freut sich, lacht, zeigt auf seine Seile, guckt den Seiler an. “Hab’ ich diesmal doch wieder gut hinbekommen. Man stell’ sich das vor, fast hätte Marie diese Seile für ihre eigenen ausgegeben. Das nervt jedes Mal.” Ich weiß nicht so recht, ob das geplant war oder einfach nur zufällig die ganze Szene völlig falsch abgebogen ist. Ich lache, fast sogar laut, und sehe zu, wie Peter meine Seile auf dem Rücken wegträgt. Auch der Seiler erhebt sich von seinem großen Stuhl und geht durch eine der zahlreichen Türen aus dem großen Raum. Das Werkeln im fünften Stock hat inzwischen aufgehört. Es ist wohl nicht fertig, sie werden morgen weiter werkeln. Warum ich nicht hoch darf, erfahre ich nicht. Ich gehe in den ersten Stock, sehe ein paar Neuankömmlinge. Sie blicken ehrfürchtig zum kleinen Portrait des Seilers hoch, das jemand ohne das Wissen und die Zustimmung des Seilers dort aufgehängt hatte. Sie haben ihr Bündel dabei. Auf in den dritten Stock. Ich beschließe ein paar von ihnen zusammen zu trommeln und ihnen eine Geschichte aus dem Seilerhaus zu erzählen. Sie blicken erstaunt und etwas verwirrt. Manche wollen lieber gleich loslegen. Mit den Seilen oder auch mit dem quälen oder gequält werden. Nicht alle, die hier sind, sind so. Aber doch überraschend viele. Zwei bleiben bei mir und verwöhnen mich mit einem Bad in Rote Beete Milchschaum. Die Säure des Safts dringt unter meine Haut, kippt leicht über die Schmerzgrenze. Das Bad und die Begleitung sind jedoch zu angenehm, um jetzt aufzuhören. Ganz hingeben kann ich mich nicht. Ich runzle die Stirn, und meine Gedanken verfangen sich wieder im Fünften. Da habe ich schonmal Flaschen gestapelt, eine ganze Mauer. Mir scheint, dass dort oben keine Flaschen mehr gestapelt werden. Etwas ganz anderes wird installiert. Säure unter der Haut. Ich blicke in tiefschwarze Augen und ein berechnetes Lächeln. Es ist sehr gut berechnet, denn es trifft trotz, dass mir die Fassade auffällt. Nun lasse ich mich doch ein wenig fallen.
Thema: Seilerhaus, Staunen und Zweifeln, Worte | Kommentare (0) | Autor: Pablo Pirnay-Dummer