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Nadel und Farbe

Donnerstag, 2. Dezember 2010 14:10

Es sind inzwischen wieder Menschen im Seilerhaus. Im üblichen Umfang, viele Menschen. Ich höre sie auch wieder lachen und schreien; und beides. Sie zieht mich in einen kleinen, dunklen Raum, den ich noch nie betreten habe und der mir auch noch nicht aufgefallen war. Blitzartig bindet sie meine Hände auf den Rücken, so dass die Handrücken aneinander liegen und die Finger zwischen den Schultern nach oben zeigen. Dann zeigt sie mir die Farben. Es seien die Farben der Zeit, bedeutet sie humorvoll. Ich sehe verschiedene Grüntöne, Orange dazwischen, weiß, verschiedene Erden. Eine kleine Nadel kratzt über meine Lippen während ich zu ergründen versuche, wo die Farben herkommen und was sie mir erzählen. Sie hat die Essenz des Seilers getrunken, sagt sie. Lacht vergnügt und etwas überdreht auf, streift mich im Vorrübergehen. Kurze, winzige Farbeindrücke, mehr kann ich nicht erkennen. Sie sagt nun nichts mehr. Hin und wieder spielt etwas warmes Metall vor meinem Mund. Kaum verletztend, bloß eine Andeutung, was wäre, wenn etwas wäre, weil etwas wäre, wodurch etwas würde. Ich gleite aus, lande unsanft auf dem Boden. Sie hat mich nicht gestoßen. Etwas Luft entweicht den Lungen beim Aufkommen, was kein Aufprall ist: Die Seile auf dem Grund sind weich. Sie müssen aus der besten Zeit des Seilers stammen, weil sie so gut gebunden sind. Es sind Meisterwerke. Zusammen mit den gelegentlichen Farbblitzen, die ihre Bedeutung vielleicht weit jenseits meiner Interpretation entfalten bildet die Anwesenheit von solcher Kunstfertigkeit, gleichzeitig von ihr, von bloß etwas zu wenig Farbe um überhaupt etwas zu sehen. Eine seltsame Sinnesverwirrung, auf die ich mich stürze, weil sie eben einen Moment abbildet, an dem die Stille schweigt. Klänge gibt es keine. Ich höre nichtmal meinen Atem. Ich spüre dieses Objekt, das ich immer noch für eine Nadel halten muss; gerade zwischen etwas schmeichelhaft Sanftem und etwas in seinem Ausdruck Hartem gefangen. Mir ergibt sich ein Moment der Undefiniertheit jedwelcher Umgebung. Und zwar nicht als dümmlich-intellektuelle Kakofonie, sondern als direkt Begreifbares. Und zwar gleichzeitig. Mir fällt noch ein, dass das irgendwie paradox sein dürfte. Ich muss breit grinsen, weil mir, sonst ein Mensch der Symbole und der Sprache, die Bezüge—und das bedeutet: die Begriffe selbst und nicht die Zeichen—abhanden kommen. Mir fällt dabei kurz auf, wie leicht so ein Moment herzustellen, besser gesagt: zu schenken ist. Wie einfach sich zwei oder mehrere nahezu beliebig zusammengewürfelte Menschen diesen berauschenden Wahnsinn schenken können. Und das vor dem Hintergrund, wie viele diesen ästhetischen Abgrund suchen und ihn sich bei jeder nahenden Gelegenheit immer wieder verweigern. Ich falle zurück in das große Geschenk, das mir gerade zu Teil wird. Konkretion, Enaktion, Ergo anstelle von Heureka. Es brennt und kitzelt auf meiner Lippe und ein Muster ist den Lichtblitzen beim besten Willen nicht zuzuordnen. Hier und da streift sie mich, unregelmäßig und zugleich beständig. Das hält mich davon ab, in mittelmäßigen Interpretationswolken zu verschwinden, was zwar auch eine schöne Betätigung ist. Aber bei weitem nicht erfüllender als dieser Moment. Dann ist sie ganz plötzlich da. Ursprünglich und wild. Direkt und vor allem fern jeder Frage. Nimmt sich von mir, was in diesem Moment schon aus bloßem Anstand ihr gehören müsste. Ich frage nichts mehr und lasse mich in ihren Puls sinken, der mich fängt, wie ich noch nie gefangen wurde. Ohne Widerstand, aber stark aufbrausend, weil das entweder meine Natur ist oder mir irgendwann (eher früh) klar wurde, dass diese Variante der Entgegnung hinreichend häufig auf viel Erfüllung im Gegenüber stößt. Synchron fährt zwischen den Anstößen und Hindernissen diese Nadel etwas tiefer in meine Lippe, so taktvoll zur Sekunde des völligen Verrücksteins, dass die Sinneskategorien selbst zu etwas verschmelzen, was mir bis dahin nicht begegnet war. Es fehlt eine Kategorie des Konkreten in einem Augenblick, der mir ansonsten ja als Mensch und Säugetier direkter kaum begegnen kann.

Nach einer genussvollen Ewigkeit trete ich vor die Tür. Tiefe Dankbarkeit drängt sich in den Vodergrund erlebter Welt, die so viel reicher ist als die bloß erträumte. Diese Dankbarkeit verdrängt einerseits das Ursprüngliche und fädelt die Welt—wie auch nach vielen anderen Gelegenheiten—wieder in mich hinein. Ich war bis hierhin jedoch nie der Dankbarkeit dankbar. Der Gedanke scheint mir nun gar nicht mehr so absurd. Das Licht blendet, und es ist ja doch nur das gedämpfte milchige Glimmen im Seilerhaus. Ein paar Menschen meinen Alters huschen kichernd vorbei. Mir fehlt zur Stunde die Phantasie um mir vorzustellen, was sie anderes erlebt haben. Es mag wohl von besonderer Intensität gewesen sein. Ich schlendere gemütlich nach oben. Dort begegnen mir Menschen, die irgendwie tief in mich hineinschauen und ein paar meiner Symbole herausreißen. Menschen, die sich etwas von meinem Wissen vermitteln. Warum auch immer sie das haben wollen. Ich lasse sie gewähren und schenke ihnen ein Lächeln. Ein tiefer Ton kündet vom Manufakturenraum. Es werden wieder neue Seile gefertigt.

Thema: Seilerhaus, Staunen und Zweifeln, Worte | Kommentare (0) | Autor: