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Vier Kategorien

Sonntag, 16. Januar 2011 22:56

Ich vermute, dass der Seiler zurück gekehrt ist. Ich wünsche ihm alle gute Besserung, die er in seinem Zustand gebrauchen kann.

Meine Lippe schmerzt noch ein wenig bei bestimmten Gelegenheiten. Wenn ich eine Orange esse, oder wenn mich jemand im Vorrübergehen etwas zu stürmisch küsst und mich nicht genug kennt, um über den Zustand meiner Lippen irgendwelche Annahmen zu machen. Dann tut es ein wenig weh, aber im durchaus freudigen Kontext. Fruchtzucker und Küsse. Grundbedürfnisse. Sie ist heute unterwegs, Espresso brühen. Diesmal hat sie eine Wette verloren und ist außer Haus. Und außer sich, weil sie unglaublich ungern Wetten verliert. Zum Glück hat sie sie nicht gegen mich verloren. In der Manufaktur werden wieder Seile gefertigt. Es riecht nach frischem Käse, nach guter Zunft in den Seilen. Die Manufaktur kenne ich nur aus Erzählungen. Nur die besten Gesellen haben da Zutritt. Es ist fast schon ein magischer Ort im Seilerhaus, der diesen Ruf vermutlich seiner begrenzten Öffentlichkeit zu verdanken hat. Ich habe die Gesellen immer nur stumm in die Manufaktur gehen sehen. Aber sie waren auch unaufgeregt, ausgeglichen. Mir fiele nichts außer dem Seilerhaus selbst ein, dass Menschen so ausgeglichen sein lässt. All die Ausbrüche und Kontexte, all die aufgebrochenen Schubladen und die Welten und Aberwelten, die sich immer wieder neu zusammensetzen. Das Geflecht der Dinge bringt die Dinge hervor, die das Geflecht der Dinge stützen. Das geht eigentlich gar nicht, findet jedenfalls ein nicht ganz unbekannter Mathematiker. Geht ja wohl. Wenn die Manufaktur läuft, dann ist das immer ein unbeschwerter Tag im Seilerhaus. Bis auf einmal, aber das hatte ganz seinerzeit andere Gründe.

Ich lehne mich ein wenig zurück. Es ist noch eine Stunde hin, bis ich an den Seilen erwartet werde. Ich darf mich heute mal wieder daran versuchen und probiere verschiedene Bewegungen aus, damit ich auf dem Weg dorthin auch ein wenig so aussehe, wie die Gesellen bevor sie die Manufaktur betreten. Bei mir sieht es aber so aus als ob. Da müssen natürlich noch einige Geheimnisse gelüftet werden. Ich gebe den Versuch vorerst doch auf. Mir wird die Haltung schon zuteil werden, sobald es dann soweit ist.

Statt dessen beschließe ich die Philosophierenden aufzusuchen. Das sind keine Philosophen. Aber genau das macht diese seltsame Gruppe aus, die auf allzu entspannte und gleichsam nicht zu methodenbeladene Art über ihren Alltag möglichst bedeutungsschwanger nachdenken möchte. Reine Kopf-Rückkopplung, nicht anstrengend aber hinreichend anregend. Ich erfahre, dass die Welt fest in vier eigenständige Kategorien eingeteilt sei. Welche es diesmal sind, vergesse ich sofort wieder weil ich meine Aufmerksamkeit dazu gebrauche, meinen Kopf relevant nicken zu lassen. Ab und zu wiege ich ihn auch hin und her um zu signalisieren, dass ich nicht sicher bin, ob ich an dieser Stelle auch widerstandsfrei zustimmen will. Insgesamt führt dieses Verhalten dazu, dass man mich einerseits willkommen heißt und andererseits in Ruhe lässt, auch wenn ich keine eigenen großen Ergüsse beizutragen habe. Heute fühle ich mich da wohl. Ich bin in Gesellschaft. Es ist andererseits nicht schlimm, wenn ich abschweife oder gar nicht bei der Sache bin. Denn es geht um nichts. Man müsse etwas leerer werden als in unseren Kreisen üblich. Im Kopf. Das hat mir mal ein Geselle gesagt. Es sei andererseits falsch, sich etwa mit Meditationstechniken in einen Zustand möglichst völliger Leere zu versetzen. Ein von uns bereits selten erreichtes Mittelmaß an Ausleerung wäre genau geeignet. Ich versuche daher Situationen aufzusuchen, die mir über ihren zeitlichen Verlauf hinweg möglichst viele Freiheiten in Richtung Leere oder Anregung erlauben. Zur Zeit scheint mir die Gruppe diese engagierte Gruppe der Philosophierenden zu diesem Zweck besonders geeignet. Die vierte Kategorie sei besonders wichtig, bleibt mir im Gedächtnis, weil man ja sonst immer drei angenommen hatte und schließlich immer noch was übrig bliebe.

Irgendwann entschuldige ich mich und gehe wieder. Irgendwas hat mich gestört und aufgeregt: Nicht gut für die Leere. Noch ein paar orientierungslose Minuten verstreichen. Dann tauchen Meine Hände in den Käse und in die neu geformten Seile. Langsam, vorsichtig, immer eine Vorstellung in den Händen spürend. Durfte ich doch inzwischen bei einigen Gelegenheiten die Meisterwerke aus erster Hand bestaunen. Aber es ist ein übler Trick, den mir der Verstand da spielt. Einerseits gibt es da dieses perfekte Modell, andererseits sind weder Verstand noch Motorik in der Lage, dem auch nur annähernd nachzueifern. Bleibt mir eine Art Hoffnung: Eines Tages. Beim Wetteifern merke ich nicht, wie die Stunden verstreichen. Später am Tag sehe ich den Seiler aus der Manufaktur kommen. Er muss sich gerade geschnitten haben und macht nun eine Pause. Er sieht mich kurz an, sagt: “gut gemacht.” Ich habe keine Ahnung, auf was er das bezieht. Hatte er Gelegenheit, meine Arbeit zwischendurch zu sehen? Hat er mich mit jemandem verwechselt? Ich danke schnell, bevor er schon wieder weg ist und gehe mit einem guten Gefühl—während der Abend über das Seilerhaus fällt.

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Seilerhaus

Montag, 2. August 2010 16:47

Es wird einen Wettbewerb geben im alten Seilerhaus. Wo die Seiler sind, kann ich nicht feststellen. Warum es das Seilerhaus noch gibt, weiß ich auch nicht. Es ist eine Reihe differenziertes Völkchen anwesend und die Luft sieht milchig, gelblich aus. Ich höre dunkle, dumpfe, schwere Klänge. Halb wie Maschinen dröhnen sie, aber sie gehören auch zur Umgebungsmusik. Jede Umgebung hat eine Musik. Ein paar der Anwesenden machen sich mit allerlei bedrohlich aussehendem Gerät auf den Weg in ein Zimmer auf eine SM-Party. Ich folge ihnen nicht, neugierig wäre ich fast gewesen. Das Haus hat fünf verwinkelte, alte Stockwerke. Ich sehe Freunde von ihr, sie selbst ist gerade nicht da. Die Freunde sind seltsame Geister, gefangen zwischen allerlei seltsamen Ideen und Projekten, Handgreiflichkeiten auch. Und sie verachten mich irgendwie während ich das Gefühl habe, sie könnten vielleicht Recht damit haben. Es liegt insgesamt hinreichend Aggression in der Luft. Aus einem Zimmer höre ich ein paar recht verzweifelte Schreie. Ob die einst wussten, worauf sie sich einließen?

Der Wettbewerb beginnt. Es ist ein Wettrennen, und es geht um die Wurst. Im wörtlichen Sinne. Es geht genau genommen darum, welche der beiden Gruppierungen am nahenden Tag auf der Leichathletik-Strecke die Würstchen verkaufen muss. Vierhundert Meter Hürden, nicht mein Ding. Ein Würstchen wird 301 Rupien kosten. Warum wir in Freiburg plötzlich in dieser entfernten Währung bezahlen, weiß ich nicht. Da das Würstchen 2 Euro im Einkauf kostet, sieht das nach einem klaren Verlust aus. Das Würstchen ist aber subventioniert. Um nun zu entscheiden, wer verkaufen muss, wird es ebenfalls einen Wettbewerb geben. Und wie es der Zufall will, muss ich einspringe, für Kalle, der kam nicht.

Mir hängen links und rechts zwei schwere Maissäcke von den Schultern. Die muss ich von ganz unten nach ganz oben schleppen. Die sportliche Dame lacht schon als sie mich damit ausstattet. Ich schleppe mich und die Säcke in den Fünften. Die Treppen sind feucht und glitschig. Das kommt von den Überresten des Käses, den man braucht um die Seile zu schmieren. Überall ist dieser Käse. Er ist aus dem Holz nicht mehr herauszubekommen. Oben angekommen, werde ich endlich diese schweren Säcke los. Nun muss ich Flaschen stapeln. Immer eine Weinflasche neben eine Sirupflasche. Eine ganze Mauer muss ich bauen, weil das bei den Seilern so Tradition ist heute. Unter dem Dach ist es heiß. Dann muss ich die alten Holzspäne noch in den Keller bringen. Das fällt mir am leichtesten—weil sie trocken sind, sind sie auch leicht—und mich packt ein wenig der Mut, als ich leichtfüßig die Treppen heruntergleite. Und ich war gar nicht so schlecht. Aber es hat nicht gereicht. 3 Minuten und 39 Sekunden. Das war meine Zeit. Meine schlanke Gegnerin hat es in 3 Minuten und 36 Sekunden geschafft. Das seien 3 Sekunden zu ihren Gunsten, rechnet sie mir vor. Ohne einen Ausdruck der Freude, aber irgendwie siegessicher. Als sei’s vorherbestimmt. Und sie hat mit ihrer Arithmetik auf jeden Fall recht.

Ich gehe in den dritten Stock, weil da eine Art Gemeinschaftsraum ist und sehe, dass die genannte Party eine Pause macht. Ein Drittel der sichtbar anwesenden sieht in jeder Hinsicht ziemlich gebeutelt aus. Die Anderen grinsen und trinken etwas. Hinter den Augen offenbar schon die Pläne für weitere kunstvolle Grausamkeiten. Bald verschwinden sie alle wieder: Wir haben ja jetzt alle die Trophäen gesehen. Ich weiß nicht, ob ich mich vorbereiten muss für den Verkauf in ein paar wenigen Stunden. So schwer kann es nicht sein. Ich verwerfe den Gedanken an das Wettrennen—und an das Wettrennen auch. Kurz sehe ich sie vorbeischlendern. Sie lacht und winkt mir zu, zieht einen ihrer Freunde in ein Zimmer. Ich erlaube mir dazu ein Lachen. Armer und glücklicher Kerl.

Ich möchte jetzt dem Seiler zur Hand gehen. Ein paar Knoten in die großen, schweren Seile knüpfen. So muss er sie später abliefern. Die Seile finde ich. Sie riechen noch nach Käse, so frisch sind sie. Aber der Seiler ist woanders und ohne seinen gelehrten Blick werden mir die Knoten misslingen. Also beschließe ich, das Seilerhaus weiter zu erkunden bis der Seiler wieder auftaucht oder etwas ganz anderes geschieht.

Thema: Seilerhaus, Staunen und Zweifeln, Worte | Kommentare (0) | Autor: