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Der strahlende Ritter Areahakas

Donnerstag, 5. Mai 2011 18:14

Es gab nur einen dumpfen, kleinen Schlag. Ein Miniaturerdbeben ohne dass, nunja, die Erde bebte. Für einen nicht näher definierbaren Bruchteil einer Sekunde, die keineswegs sprichwörtlich war, waren alle in einen unglaublich kurzen Ewigkeitsschlummer, ohnmächtig, getreten. Weg getreten! Wenn auch nur für kurz. Unmittelbar danach breitet sich eine schleichende Stille im Seilerhaus aus. Über das Gefälle der Stimmungen vorher und nachher sind alle so verwundert, dass sie insgesamt auf ihre Weise zu suchen beginnen. Nach kurzem Chaos finden wir heraus, dass die Manufaktur still steht. Einfach so. Dafür gibt es keine Gründe, vielleicht Ursachen, aber die liegen im Nebel, in der augenblicklich anderen Konsistenz—hauptsächlich die des Käses. Das ist kein wünschenswerter Zustand. Die Manufaktur treibt das Haus, seine Stimmung, seine Einwohner, gibt jenen ein Momentum, die Ziele entweder verachten oder wie ich von Zeit zu Zeit und immer häufiger verwerfen. Jetzt bleibt dieser Puls aus, und ich fühle mich nackt. In einem neuen Sinne, denn nackt sein ist im Seilerhaus ja keine Seltenheit ansonsten. Man spürt so etwas wie eine Scham, und ich sehe viele andere, die sich unsicher umsehen. Die jetzt wissen möchten, wie sie denn nun von allen betrachtet werden. In welchem Licht sie erscheinen. Viele sehen so aus, als fragten sie sich, was sie eigentlich hier her verschlagen hat. Als wollten sie fragen: “Du wohnst doch jetzt nicht wirklich im Seilerhaus, oder?” Das äußere Refugium, gleicht einem schlecht gelernten Standardtanz ohne Variation: “Aufwachsen, Irrtum, Repression, Energie, Ausbildung, Heiraten, Arbeiten, Kinder bekommen, Arbeiten, Sterben”, brüllt es mich von irgendwo innen an. Mir gelingt ein Schmunzeln, aber es bleibt mir im Hals stecken. Das AREAHAKAS-Modell mit seinen kaum ausgeprägten Verzierungen, die mir eine längst vergessene Zeit lang als das an sich Individuelle vorgestellt wurden: Jeder darf entscheiden, welche Farbe die Hose hat, solange es eine der richtigen ist (Hose und Farbe, versteht sich). Die Farbe der Rose ist festgelegt. Der Grundablauf von AREAHAKAS auch. Areahakas, das wäre ein klangvoller Bösewicht in einem Roman, oder ein ätzend strahlender Ritter. Oder beides, aber dann auf keinen Fall mehr als Teil eines Romans. “Die Manufaktur, sie steht still”, flüstert einer. Manche haben gerade einem Blick in den Augen, der bereits andeutet: “Ja und?”. Dass mich diese Aussage erschrecken kann, beruhigt mich. Ohne die Manufaktur, scheinen wir alle nicht zueinander zu finden. Fremdartigkeit breitet sich aus. Einige hüllen sich inzwischen fröstelnd in eine Decke. Das Haus wirkt wie eine Ruine, unwirklich und wie ein Ort, von dem man seine Insassen fragen möchte, ob sie denn wirklich dort lebten. Gerade jetzt ist das ein sehr skurile Vorstellung. Der strahlende Ritter ruft mich in seinen ehrenvollen Dienst. Das Haus hat sich jedoch verbarrikadiert. Keiner von uns findet einen Weg hinaus. Wenn sich etwas halbtot anfühlt, dann das. “Wir kommen grad nicht raus”, stellt eine freundliche Stimme fest. Wir Herdentiere! Wir setzen uns nah beieinander, gewähren uns Schutz vor einer Welt, die für uns gerade nur aus Vergangenheit besteht, die uns jetzt ganz unvermittelt bedroht. Wie können wir uns bloß selbst bedrohen? Viele Worte werden nicht gesprochen. Hin und wieder säufzt jemand leise, sieht zu Decke hoch. Es beginnt zu stinken. Dieser widerliche Käse. Der ist überall. Ratlos bleiben wir in einer Zeit gefangen, die wir für die einbrechende Nacht halten.

Thema: Seilerhaus, Staunen und Zweifeln, Worte | Kommentare (0) | Autor:

Vier Kategorien

Sonntag, 16. Januar 2011 22:56

Ich vermute, dass der Seiler zurück gekehrt ist. Ich wünsche ihm alle gute Besserung, die er in seinem Zustand gebrauchen kann.

Meine Lippe schmerzt noch ein wenig bei bestimmten Gelegenheiten. Wenn ich eine Orange esse, oder wenn mich jemand im Vorrübergehen etwas zu stürmisch küsst und mich nicht genug kennt, um über den Zustand meiner Lippen irgendwelche Annahmen zu machen. Dann tut es ein wenig weh, aber im durchaus freudigen Kontext. Fruchtzucker und Küsse. Grundbedürfnisse. Sie ist heute unterwegs, Espresso brühen. Diesmal hat sie eine Wette verloren und ist außer Haus. Und außer sich, weil sie unglaublich ungern Wetten verliert. Zum Glück hat sie sie nicht gegen mich verloren. In der Manufaktur werden wieder Seile gefertigt. Es riecht nach frischem Käse, nach guter Zunft in den Seilen. Die Manufaktur kenne ich nur aus Erzählungen. Nur die besten Gesellen haben da Zutritt. Es ist fast schon ein magischer Ort im Seilerhaus, der diesen Ruf vermutlich seiner begrenzten Öffentlichkeit zu verdanken hat. Ich habe die Gesellen immer nur stumm in die Manufaktur gehen sehen. Aber sie waren auch unaufgeregt, ausgeglichen. Mir fiele nichts außer dem Seilerhaus selbst ein, dass Menschen so ausgeglichen sein lässt. All die Ausbrüche und Kontexte, all die aufgebrochenen Schubladen und die Welten und Aberwelten, die sich immer wieder neu zusammensetzen. Das Geflecht der Dinge bringt die Dinge hervor, die das Geflecht der Dinge stützen. Das geht eigentlich gar nicht, findet jedenfalls ein nicht ganz unbekannter Mathematiker. Geht ja wohl. Wenn die Manufaktur läuft, dann ist das immer ein unbeschwerter Tag im Seilerhaus. Bis auf einmal, aber das hatte ganz seinerzeit andere Gründe.

Ich lehne mich ein wenig zurück. Es ist noch eine Stunde hin, bis ich an den Seilen erwartet werde. Ich darf mich heute mal wieder daran versuchen und probiere verschiedene Bewegungen aus, damit ich auf dem Weg dorthin auch ein wenig so aussehe, wie die Gesellen bevor sie die Manufaktur betreten. Bei mir sieht es aber so aus als ob. Da müssen natürlich noch einige Geheimnisse gelüftet werden. Ich gebe den Versuch vorerst doch auf. Mir wird die Haltung schon zuteil werden, sobald es dann soweit ist.

Statt dessen beschließe ich die Philosophierenden aufzusuchen. Das sind keine Philosophen. Aber genau das macht diese seltsame Gruppe aus, die auf allzu entspannte und gleichsam nicht zu methodenbeladene Art über ihren Alltag möglichst bedeutungsschwanger nachdenken möchte. Reine Kopf-Rückkopplung, nicht anstrengend aber hinreichend anregend. Ich erfahre, dass die Welt fest in vier eigenständige Kategorien eingeteilt sei. Welche es diesmal sind, vergesse ich sofort wieder weil ich meine Aufmerksamkeit dazu gebrauche, meinen Kopf relevant nicken zu lassen. Ab und zu wiege ich ihn auch hin und her um zu signalisieren, dass ich nicht sicher bin, ob ich an dieser Stelle auch widerstandsfrei zustimmen will. Insgesamt führt dieses Verhalten dazu, dass man mich einerseits willkommen heißt und andererseits in Ruhe lässt, auch wenn ich keine eigenen großen Ergüsse beizutragen habe. Heute fühle ich mich da wohl. Ich bin in Gesellschaft. Es ist andererseits nicht schlimm, wenn ich abschweife oder gar nicht bei der Sache bin. Denn es geht um nichts. Man müsse etwas leerer werden als in unseren Kreisen üblich. Im Kopf. Das hat mir mal ein Geselle gesagt. Es sei andererseits falsch, sich etwa mit Meditationstechniken in einen Zustand möglichst völliger Leere zu versetzen. Ein von uns bereits selten erreichtes Mittelmaß an Ausleerung wäre genau geeignet. Ich versuche daher Situationen aufzusuchen, die mir über ihren zeitlichen Verlauf hinweg möglichst viele Freiheiten in Richtung Leere oder Anregung erlauben. Zur Zeit scheint mir die Gruppe diese engagierte Gruppe der Philosophierenden zu diesem Zweck besonders geeignet. Die vierte Kategorie sei besonders wichtig, bleibt mir im Gedächtnis, weil man ja sonst immer drei angenommen hatte und schließlich immer noch was übrig bliebe.

Irgendwann entschuldige ich mich und gehe wieder. Irgendwas hat mich gestört und aufgeregt: Nicht gut für die Leere. Noch ein paar orientierungslose Minuten verstreichen. Dann tauchen Meine Hände in den Käse und in die neu geformten Seile. Langsam, vorsichtig, immer eine Vorstellung in den Händen spürend. Durfte ich doch inzwischen bei einigen Gelegenheiten die Meisterwerke aus erster Hand bestaunen. Aber es ist ein übler Trick, den mir der Verstand da spielt. Einerseits gibt es da dieses perfekte Modell, andererseits sind weder Verstand noch Motorik in der Lage, dem auch nur annähernd nachzueifern. Bleibt mir eine Art Hoffnung: Eines Tages. Beim Wetteifern merke ich nicht, wie die Stunden verstreichen. Später am Tag sehe ich den Seiler aus der Manufaktur kommen. Er muss sich gerade geschnitten haben und macht nun eine Pause. Er sieht mich kurz an, sagt: “gut gemacht.” Ich habe keine Ahnung, auf was er das bezieht. Hatte er Gelegenheit, meine Arbeit zwischendurch zu sehen? Hat er mich mit jemandem verwechselt? Ich danke schnell, bevor er schon wieder weg ist und gehe mit einem guten Gefühl—während der Abend über das Seilerhaus fällt.

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