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Der andere Ort

Dienstag, 22. November 2011 20:57

Der andere Ort erscheint mir immer noch wie eine Pfeilfeder. Dazu verdammt, der Pfeilspitze, für die sie sich gerne hält, hinterherzufliegen, zwar für Stabilität zu sorgen, irgendwie, aber dennoch nie vorne zu sein und doch mit Vorne eben eine sehr untrennbare, unzertrennliche und fast parasitäre Beziehung eingehen zu müssen. Alles geschuldet, jenem Stück Holz (von mir aus auch Fiberglas), das um der guten, lieben Ordnung willen Vorne und Hinten verbinden muss (will?). Den Ort, der das Holz darstellt habe ich noch nicht gefunden. Ich wäre von Herzen daran interessiert. So ist es kaum verwunderlich, dass mir die Verwundbarkeiten des anderen Orts ganz und gar ferner vorkommen wollen. Man kann sie, trägt man sie auch im Herzen, nicht auf die gleiche herzliche Art vermissen, wie den reinen Klang. Die Faszination der technisch herbei geführten Eselsjagd (Pfeilfeder nach Pfeilspitze) bleibt mir in all ihrem systemischen Wirrwarr dennoch erhalten, so dass sie mir an dieser Allegorie die Unvereinbarkeit des Tragens, Schiebens und Voranpreschens direkt und konkret sichtbar werden will. Es führt fast zwangsläufig zu Verzweiflungen der einen oder anderen Art, während gleichzeitig niemand dieser Jagd entkommt, der ihr nicht entgeht. Oder besser: der sich ihr nicht entzieht. Und dann schrammen liebende Seelen an der Brutalität dieser Hetzjagd entlang.

Es muss fast höhnisch und sarkastisch klingen, die sicheren Aphorismen der Alten in schwülstigen Ansprachen zu hören oder sie täglich zu sehen, wie sie visuell, überlebensgroß, auf einen herabschreien. So als seien die darin verborgenen, tiefen Wünsche jemals an diesen Orten Realität geworden. Darüber wird wohl noch so viel Wein und noch so viel Herzhaftes die Kehle herunterrinnen können, und wird sich doch nichts verändern.

Es sei denn, freilich, man begänne zu begreifen, dass die großen Worte der Vergangenheit beim genauen Hinsehen ebenso verzweifelte Hilferufe nach Auswegen sind. Dann, und leider nur dann, findet man wahrlich große Verbündete im Geiste. Es bedarf dazu jedoch fortgeschrittener Techniken in den alchemistischen Formen der uneigentlichen Rede (ja, rezeptiv und produktiv). Also, auf an’s Werk, ihr künftig Wortmächtigen. Ihr steht in der Pflicht, den späten Nachfahren allzu große Worte zu hinterlassen. Begeht auf dem Weg dorthin jedoch bloß nicht den Fehler, Euch zu wichtig zu nehmen. Der kleinste Anfang davon ist schon Gift.

Thema: Staunen und Zweifeln | Kommentare (0) | Autor:

In vielen Gestalten

Freitag, 29. Oktober 2010 22:51

Der initiale Transfer ist abgeschlossen. Guten Morgen, Sonne, Wolken, Regen, Menschen mit den lachenden, weinenden, träumenden, hoffenden, staunenden, zweifenden, resignierten Augen. Und jede Menge mehr. Ich befinde mich als seltsames Arbeitskonstrukt an einer interessanten Stelle,  an einer Karriereposition, die mir von einem Viertel der Menschen als Karrieresackgasse, von einem anderen Viertel als Karrierechance per se, von anderen widerum gar nicht oder mit der, wie ich finde, gebührenden Menge an ironisiertem Spott ausgelegt wird.

Ich vertrete also den Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie an der Friedrich-Schiller-Universität (FSU, sic!) zu Jena. Ich darf ausprobieren, was es heißt, als Professor an einer deutschen Universität zu arbeiten. Mit allem was dazugehört. Ich bin sowas wie ein PiP, ein Professor im Praktikum. Ich hoffe, dass man zu dem Urteil kommt, dass ich für diesen schönen Beruf geeignet bin. Ich hoffe, dass ich die zahlreichen Herausforderungen meistern kann.

Ich mag Jena, ich mag Jena, es ist manchmal ein wenig grau, dann mag ich es nicht. Ansonsten mag ich Jena. Es ist ähnlich verschlafen wie Freiburg, hat die Hälfte der Einwohner, auch viele Touristen, aber weniger (wesentlich weniger) schöne Cafés. Aber es hat welche. Und die sind durchaus attraktiv. Nein, ich bin nicht in der “Stadt der erloschenen Lampen” angekommen. Jena hat ebenfalls eine ähnliche Wohnsituation wie Freiburg. Sogar so evident, dass ich diesen Umstand ungeplanter Weise als Ice-Breaker in der Vorlesung verwenden konnte. Als ich sagte, dass ich “vor zwei Wochen herkam” und dann versuchte in Jena eine Wohnung zu finden, haben meine Studierenden gelacht. Natürlich haben sie später im Verlauf noch mehr gelacht. Bei annähernd 400 Leuten geht es um mehr als um ein deklaratives Feuerwerk an illustren Informationen. Zumindest, wenn man nicht gleich mit bloß noch 80 Leuten im großen (immer noch zu kleinen) Hörsaal stehen will. Ich lese zu “Lernen, Entwicklung, Sozialisation”. Das ist gut und gerne eine Vorlesung über alles im Fach. Vom Modul her ist sie daher im ersten Semester ganz gut platziert. Es sitzen aber auch Menschen im 11. Semester drin. Alle willkommen, herzlich Willkommen, mehr als willkommen. Die Vorlesung hat im Übrigen den Zusatz “eine Einführung”. Das ist zwar typisch Deutsch irgendwie, aber hilft auch. Denn eine einzelne Sitzung zur “Kognition des Lernens” könnte sonst durchaus aus dem Ruder geraten. Vorlesung, das ist wesentlich anstrengender als ich immer dachte. Ich hatte bislang schon großen Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen, die das machen. Jetzt ist der noch etwas gewachsen.

Weil es gebraucht wurde, habe ich mein Freiburger Büro geräumt. Für die Zwischenzeit. Ich werde ja mit großer Wahrscheinlickeit dahin zurückkehren. Kommendes Semester vielleicht, oder noch eins weiter. Ich bin nicht nur mit einem lachenden Auge gegangen—auch wenn ich nach all den Jahren auch den ganzen angesammelten Unrat endlich mal loswerden konnte. Ich muss dringend in Freiburg eine Sprechstunde anbieten, es sind ja noch ein paar Fäden offen (oder fünf).

Die Thüringer begegnen mir auffallend herzlich. Bislang gab es da nichtmal Ausnahmen! Man scheint hier eine zunächst skeptische aber gleichzeitig zutiefst anteilnehmende und hilfsbereite Kultur zu pflegen. Man spürt natürlich allgegenwärtig nach wie vor den tiefen Krater, den insbesondere die zurecht verhasst-verachtete Treuhand hier hinterlassen hat. Nicht zu offen, aber sichtbar, hörbar. Da war nicht viel her mit der Würde, schon gar nicht von der der Menschen. Ich hoffe in latenter Naivität, dass sich diese tiefen Wunden einst heilen lassen. Derzeit ist man weit entfernt davon.

Ich habe natürlich auch Kollegen. Auch hier bin ich mehr als positiv überrascht und erstaunt. Danke Vicky, Nicole, Regina, Caro, Zoltán, für die große Offenheit, Freundlichkeit und Unterstützung in den ersten Wochen. Es ist ja nicht eben wenig, was wir als “Rumpf-Crew” gerade zu stemmen haben. Fridolin heißt ein von mir hoch geschätzter Mensch, der offiziell eine Position als wissenschaftliche Hilfskraft inne hat, gerade vor diesem Hintergrund unglaubliches leistet und menschlich ein riesiges Glück ist. Ich muss ihn mal mit nach Freiburg bringen—bei nächster Gelegenheit.

Inzwischen habe ich rausgefunden, was “Lehramt (alt)” und “Lehramt (neu)”, das Jenaer Modell, der Bachelor-Studiengang, der Master-Studiengang und der (auslaufende) Magisterstudiengang für verschiedene Nöte haben und wie man ein paar davon mit geeignetem Lehrangebot wandeln kann. Ich habe, wie auch in Freiburg, einen sehr positiven Eindruck von den Studierenden—was ja auch klar ist: Menschen, die sich in das Fach aufmachen, das ich so liebe—da fällt alles natürlich ein wenig leichter. Gut, dass ich einigen auch im Seminar begegnen darf. Aus der Sprechstunde habe ich schon so manch interessanten und/oder überraschenden Impuls mitgenommen, sei es menschlicher oder inhaltlicher Art.

Mein Büro mit der Raumnummer 119 sieht derzeit allerdings noch aus wie ein Kühlschrank. Es wird gleich ein paar Grad kälter, wenn man hereinkommt. Irgendjemand, der nicht ich ist, muss das mal so gewollt haben. Da werde ich demnächst wenigstens ein paar Bilder mitbringen. Auf dass die Umgebung etwas mehr mit meiner Person harmoniere.

Bleibt noch was zum Pendeln zu sagen. Ich pendle ja einerseits zwischen Freiburg und Weimar (Wochenende) und andererseits zwischen Weimar und Jena (täglich). Das Bahnfahren ist nicht weiter schlimm. Auf den langen Strecken kann ich ganz gut arbeiten, und unter den Arbeiten, die anfallen, sind hinreichend solche, die ich auch im Zug erledigen kann. Also ist das kein Problem. Diese Stunden kann ich faktisch ganz in Thüringens Dienst stellen. Die kleinen Bahnfahrten reichen aus um einen absonderlichen Gedanken zu fassen oder etwas aus einer gänzlich anderen Perspektive zu sehen. Eine willkommene Gelegenheit, zumal die Termine sich jetzt ja ansonsten jeweils gegenseitig jagen.

Das Pendlerleben andererseits ist seltsam. Eigentlich fühlt es sich so an, als sei ich immer unterwegs. Nie irgendwo sesshaft. Mir fehlen die Menschen in meinem Umfeld unter der Woche ziemlich. Das ist auf besondere Weise anders als üblicherweise auf Reisen oder wenn man sich während der Woche aufgrund langer Arbeitszeiten nicht viel sieht. Ich werde mich vermutlich etwas mehr daran gewöhnen, sicher aber nie ganz.

Die Bürokratie mit dem doppelten Wohnen und all’ dem Drumherum habe ich für’s Erste wohl besiegt—das geschieht natürlich nie endgültig und die Steuererklärung für 2010 wird mit Sicherheit ein komplexes, dynamisches Konstrukt mit vermutlich hinreichend Entropie. Aber das ist momentan ja noch ein wenig hin.

Soweit der neue Überblick. Einzelheiten wird’s dann sicher auch noch geben.

Thema: Alltag, Hochschullehre, Schattenreigen, Wissenschaft | Kommentare (0) | Autor: