An der Decke laufen

Es ist gerade eben etwas ruhiger geworden im Seilerhaus. Viele Menschen sind rausgegangen am Tag. Sie werden wieder kommen. An den Wettbewerb—und insbesondere an diese absurden Würstchen—erinnere ich mich nun kaum noch. Andere Eindrücke haben sich verstärkt. Soeben bin ich im vierten Stock angekommen. Dort helfe ich dem Seiler all die Seile an der Decke zu befestigen. Er macht dies ganz kunstvoll, als eine interaktive Installation. Sobald wir fertig sind, kann man an der Decke laufen. Die Seile halten einen fest. Trotz der Schritte, die sich immer wieder aus den Ankern lösen, die so gar nicht wie Fesseln wirken wollen. Ich bin der Erste, der die Installation ausprobieren darf. Ich schwinge mich, wie einst an den Ringen, zum Handstand empor und lasse die Installation meine Füße greifen. Das Blut schießt mir in den Kopf. Das hilft mir nicht gerade bei der Orientierung. Die Schritte sind noch etwas ungelenk. Es ist seltsam, an der Decke zu laufen. Die Seile halten, und der Seiler sieht bärtig zu mir herauf und nickt wohlwollend. Ich erkunde den bekannten Raum, der ansonsten leer ist. Altes Holzparkett, das viel zu wenig gepflegt wurde und zu oft den Essenz-Attacken des Hauses ausgeliefert war, steht mir als Boden entgegen, der mal eben zur Decke wurde. Es ist wie die Treppen voll mit den Resten vom Käse, der die Seile schmiert. Der Seiler selbst hat mal wieder ganze Arbeit geleistet. Ich falle nicht und doch kann ich mich frei bewegen. Das Gefühl der Seile um die Füße und Waden ist etwas seltsam. Auch weiß ich nicht, wie ich da eigentlich genau festgehalten werde, d.h. warum die Seile genau halten. All das ist Teil dieser seltsamen Installation. Schon allein aus dem Abenteuer heraus werden es die Besucher später lieben, sich ein wenig hängen lassen und einen ganz anderen Perspektivenwechsel erleben. Ich merke, dass die kunstvoll gestaltete Installation selbst bei diesem Erlebnis (leider) fast nebensächlich wird. Das Handwerk lässt mich hängen und die Form und Ausgestaltung sehe ich genau genommen nur, wenn ich aus den Rahmen der Installation selbst wieder austrete. Dieser Umstand an sich ist faszinierend: Ich kann es nur verstehen, indem ich es gerade nicht erlebe. Und anderes herum. Lange halte ich das nicht durch. Mir fehlt das Training, so lange das Blut im Kopf zu ertragen. Yogi müsste man jetzt sein, denke ich, dann hätte man alle Zeit der Welt hier oben, unten, dort eben. Als ich es will, gleite ich an einem schräg hängenden Seil nach unten. Der Seiler ist längst weg und widmet sich anderen Vorhaben. Ich bleibe noch ein wenig in dem Raum. Das ist meine einzige Chance, diesen Ort so ganz für mich allein zu haben, und das genieße ich noch für ein paar schöne Augenblicke.

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Datum: Mittwoch, 4. August 2010 15:56
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