Alcina in Köln

Um es auch diesmal wieder vorweg zu nehmen: Die Alcina in Köln ist ganz besonders sehenswert. Einen Überblick über die Inszenierung und Handlung gibt es hier:

Überblick über die Inszenierung und Handlung (Oper Köln)

Der WDR hat sich zum Thema auch geäußert und zeigt ein wenig Einblick in die Inszenierung (praktisch für mich, dann muss ich das nicht nochmal tun).

Der WDR über die Inszenierung

Nun aber, Alcina. Bevor ich drin war schrieb ich noch “mach sie fertig.” Das erschien mir plausibel. Ich hatte vom Libretto aus gedacht. Aber es wäre nicht die Reihe von Händel-Opern, die mir gerade begegnen, wenn mich nicht auch dieser wunderschöne, lange und viel zu kurze Augenblick völlig überraschen würde. In Haltung und Vollendung der Spannung zwischen Alcina und Ruggiero kommt diese Überraschung und steht mit einer Wucht im Zusammenhang mit der kargen Inszenierung. Das erreicht meinen Verstand erst einen Tag nach der Vorstellung. Langsam und auch etwas traurig.

Wer das Video vom WDR gesehen hat, weiß bereits: diese Alcina hat keinen Zauberwald bekommen. Es gibt nur ein paar Tische und eine flache Projektion von Silhouetten, die einst Bäume gewesen sein könnten.

Im Ausklang und in der Ratlosigkeit der Postmoderne, die sich ihren Atem mit eigenen Mitteln nimmt, und die sich immer noch aber ohne anhaltenden Grund vehement gegen das zutiefst verwurzelte mythische Bedürfnis des Menschen stemmt, bleibt die Analyse und das nackte Herz das einzige was als Statement einer offenen Kulturentwertung übrig bleibt. So bleiben die wundervollen Stimmen einzig übrig, die so tief berühren. Allen voran Claudia Rohrbach (Alcina) und—jetzt hat’s mich halt endgültig gekostet—Franziska Gottwald (Ruggiero). Beide Rollen interpretiert als gefangen in so tiefer Verletzung, das man schreien will, schreien, schreien.

Die Projektion, das eigentlich Zauberhafte, bleibt hinter dem nur mehr Geträumten zurück – auch weil so der Zauberwald nicht mehr wachsen kann. Das ist keine Not als Tugend, sondern eine düstere Tugend der Not. Und die Inszenierung bezieht mit dem Inhalt und der Führung der Charaktere dazu auch eine klare Position. Aber auch nur auf diese Weise kann ich als Zuschauer später einen Wert reflektieren, der mir selbstverständlich erscheint, der aber gar nicht so selbstverständlich zu sein scheint.

Und so wurde mir erst spät klar, warum dieser Ruggiero am Ende gar nicht um seiner Entscheidung Willen erhoben werden kann. Warum er nicht, wie ich erst annahm, halb im Glück und halb in Sehnsucht gefangen werden muss. Nichts in ihm kann den Verlust der Möglichkeit (des an sich Möglichen) ausgleichen, weil die Erinnerung nicht mehr als eine Projektion ist. Keine Macht ist so innovativ und so voller Inspiration, wie die Möglichkeit. Das ist nicht nur neurologisch eine Gewissheit.

Diese Projektion aber ist leer, so wie die sichtbare Haltung zur Oper, die zwar verzaubern soll aber nicht kosten darf. Sie muss von einer Erinnerung leben, die es aus sich selbst heraus allmählich nicht mehr gibt. Von der man nehmen darf aber der man nichts geben muss. Aber so geht das nicht. Alcinas Zauber besteht nunmal aus dem Opfer ihrer Liebenden. Ohne die Verehrung und die Hingabe, entsteht der ganze Wald nicht—und auch die Götter hören nicht mehr zu. Besonders ihr nicht: Sie muss in ihrem Wesen versagen, weil man ihr das Wesentliche versagt.

Ausgerechnet in dieser tief in die Inszenierung verwurzelten Verzweiflung des Verlusts von unendlich kostbaren Schätzen der Kultur steht die Oper in einer Aktualität wieder auf. Die Beispiele der neuen Händel-Aufführungen in Basel, Freiburg und Köln stehen dafür Pate. In Köln nun aber ohne jedoch eine Antwort zu geben, die es auf sehr verschiedene Weise in Freiburg und Basel gab. Ohne eine Lösung erschaffen. Aber mit einem tief verletzten Gefühl, dass diese Schätze erhalten werden müssen—und zwar nicht aus einer Nostalgie, sondern damit sie sich im Bezug zur Zeit verändern können. Damit sie gestaltet werden können.

Faszinierenderweise spielt Alcina im Palladium. Keine hundert Meter entfernt von den Produktionsstätten der Schwarm-Dummheit (Danke, Inka, für diesen wundervollen Begriff), einer inzwischen vollkommen inhaltsentleerten Fernsehwelt, die keinerlei Opfer fordert, sieht man mal von den grauenvoll einfallslosen Werbespots ab, die aber auch keinerlei Substanz bietet, sich gar die Abwesenheit der Substanz zum wirtschaftlichen Subtrat erhebt.

Man will die Alcina nicht gehen lassen, trotz ihrer Grausamkeit. Nicht um ihretwillen (soll sie doch von mir aus zu den sieben Höllen fahren), sondern um unseretwillen. Denn, wenn sie gegangen ist und selbst nur noch Form ist, bleibt nicht mehr, was niemals da war: Danke Händel, auch für diesen musikalischen Meisterwurf, der sich am Ende verengt und verdichtet. Wie hattest Du, alter Meister, das bloß ahnen können?

Niemand kann es sich leisten, solche Schätze herzugeben. Nicht Ruggiero und schon gar nicht eine Weltstadt. Wenn ihr also Größe wollt, dann müsst ihr sie auch hergeben. Damit sie Teil der Welt bleibe. Und das ist keineswegs allein eine Frage der Abendkasse. Wer Banken retten kann, der muss auch das Wesen der Identität bewahren und ihr darin liegend den Wandel wieder einräumen—und wehe dem, der statt dessen vom Werteverfall quasselt. Der Abgrund der Alternative dazu ist zu groß. Kultur zu finanzieren ist keine Subvention eines marode wirtschaftenden Betriebs. Es ist vielmehr die Achtung vor einem Wert, der sich der Wirtschaftlichkeit entziehen muss um wirklich groß zu sein.

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Datum: Montag, 2. Juli 2012 11:29
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