Beitrags-Archiv für die Kategory 'Rezensionen'

Lighter Borne: Joanna Newsom Divers Tour in Köln

Sonntag, 8. November 2015 18:03

Gibt’s das in Avantgarde, zeitgenössische Musik vielleicht, aber dann auch Folk, nur so’n Bisschen? Wie ein romantischer Liederabend aber mit Schlagzeug und Bratsche? Harfe wäre schön. Und Klavier. Jede Mengen Saiten als Lauten und Gitarren obendrauf. Sowas von der Art, dass es deinen Kopf nimmt und irgendwo hin trägt. Dass es ein paar Türen aufstößt und dich schweben lässt, gleich für ein paar Tage. Dass es dir im Wesen herumfuhrwerkt, einfach weil das geht, wenn alle Fäden und Geschichten richtig zusammen getragen werden. Etwas, dass dich trifft, weil du diese Klarheit irgendwie auch schonmal gerne gehabt hättest. Etwas, das nichts beschönigt, und das dir trotzdem Mut macht. Etwas, das komplex genug ist. Vielleicht immer einen Tick zu komplex. Was wirklich das schönste Kompliment ist, wenn man mal genau hin hört. Das können ja nur wenige Musikerinnen und Musiker. Joanna Newsom gehört dazu. Schlicht atemberaubend, und Gewissheit in Schöneit im Klang. Da ist eine hohe Virtuosität sogar bloß eine Nebensache, ein technisches Beiwert, so wie es sein soll.

“And in an infinite regress:
Tell me, why is the pain of birth
lighter borne than the pain of death?”

Joanna Newsom, Divers Tour 2015, 6.11.2015 in Köln. Nicht weniger als wundervoll. Weil: voller Wunder. Danke, Joanna Newsom und Band. Danke für ein wirklich außerordentlich schönes und zugleich brillantes Stück Welt!

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Arminio in Halle: Zeuge der Verletzlichkeit

Dienstag, 10. Juni 2014 12:35

Der Arminio in Halle. Bei den Händelfestspielen.

Festspielorchester und Ensemble ingesamt berauschend, vielfältig, machtvoll. Allem voran die wunderschönen Stimmen, allesamt. Unbedingt hin!

Die Inszenzierung ist mir erstmal nicht gefällig. Sie startet zunächst beinahe platt vor gemalter Mauer und vor gemaltem Einsturz derselben. Ergießt sich dann aber in einer Parabel. In einer Innenschau der Oper (auch wörtlich, denn durch das Bühnenbild suggeriert, sitzen wir bald hinter der Bühne, werden Bündnispartner der Kunst, der Künstler und des ganzen Geschehens). Wir sehen die Verletzlichkeit der Kultur. Wir, Publikum, stehen ja plötzlich hinter der Bühne, hinter dem Geschehen und sehen immer wieder, dass der Vorhang fällt. Ein Teil der Handlung ereignet sich im Enthoben-Verborgenen. All jene Dinge, die sich dem Geschichtsverständnis enziehen (immanent) und all jene, die sich den Härten des Kunstbetriebs widmen (aktuell). Und bis zum Schluss kämpfen sie alle für eine Tugend der Bewegung. Immer angegangen vom Formalen. Nichts ist grimmiger als dieser unaufhaltsame Tod, ein Lustmolch und Voyeur gleichzeitig, der ohne Stimme kommt, der immer da ist. Der sich aufgeilen will, aber nichts gibt. Und der sogar die Handlung unterbrechen kann. Niemand sonst kann das. Und in seinem verlängerten Arm, gibt er Regie noch an, wenn er doch eigentlich längst verjagt wurde, wenn der Vorhang – auch unser hinterer – längst gefallen ist. Auf der Bühne hat die Tugend freilich gesiegt. Hinter der Bühne noch längst nicht. Aber wir lernen auch: Die Bücher können hier in der Oper (im Theater) dem Feuer  wieder entnommen werden, dem sie einst so unachtsam übergeben wurden. Was für ein Hoffnungsschimmer vor welch schöner Darbietung.

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Eine unzähmbare Alcina

Sonntag, 8. Juni 2014 11:11

Dresden. Semperoper. Händels Alcina.

Erstmals eine unzähmbare Alcina gesehen. Alles Gedachte über den Haufen geworfen. Die Neu-Freudsche Interpretation im Ruggiero war mir zu platt, und das hat sich auch auf “Verdi Prati” und “Sta nell’ Ircana” ausgewirkt. Wobei letzteres unglaublich gut zum Entlarven eingesetzt wurde. Vanessa Goikoetxeas Alcina war unglaublich. Auch stimmlich überirdisch. Völlig begeistert. Eine komplett neue Sicht. Das Bühnenbild (ständig in Bewegung) etwas, was einen noch im Tieftraum heimsucht (im positiven Sinne). Ich habe noch nie eine so lästige Bradamante gesehen (danke allein schon dafür: Christa Meyer), überraschend schön Christel Loetsch’s Oberto: was für eine Präsenz. Veronica Cangemi hat uns als Morgana bezaubert. Na, und, wo ich doch nicht eben ein Oronte-Fan bin: Jetzt hab’ ich’s auch endlich kapiert. Dank Simeon Esper. Meinen Ruggiero kann ich aber dennoch nicht hergeben. Das mag man mir nachsehen. Wenngleich mich die völlig andere Interpretation sehr gefreut hat! Bravi, Bravi. Was für ein schöner Abend.

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Schweizer Roadtrip: Ernst, Bach, Gottwald

Samstag, 1. Juni 2013 11:20

Nun denn, hier also der Begeisterungssturm zum gestrigen Tage. Viel Raum für Dialektik bleibt da nicht. Ich hoffe also hier nicht nach den Maßstäben einer kühlen Erörterung beurteilt zu werden. Zunächst sei die Fahrt selbst erwähnt. Ein Roadtrip erster Güte mit Steffi und DanDan. Bald alte, bald neue Musik im Ohr auf Riehen (bei Basel) losgeflogen.

Die Welt von Max Ernst und die darin liegenden, wundervollen Abgründe erkundet. Eine beachtliche Sammlung hat die Fondation Beyeler hier zusammen gerufen. Viele Exponate aus privater Hand, eine Ausstellung, die man also weder so noch überhaupt unbedingt alle Tage zu sehen bekommt. “Die Menschen sollen nichts davon wissen”. Allein da könnte ich den ganzen Tag davor verbringen, ganz zu schweigen von der “ganzen Stadt”. Der Blick in der Nähe vereint Zivilisationserklärung und -kritik. Die Schlachten kurz unter den stillen Krönungen, alles getragen von einem Wunsch, mitten in die Erde gebettet zu sein—und drängt dabei wie Schichten von Waldboden nach oben—das Waldthema ist ohnehin auch sehr ausführlich beleuchtet worden. Nicht einmal die Drachen fehlen. Da lässt sich viel verbinden, was vorher nur lose im Kopf herum lag. Aber dies alles nur exemplarisch.

Nach einem Kaffe in einem recht urig-witzigen riehener Café: auf nach Zürich. In einer ganz lebendingen Vorfreude. Zu Zürich selbst diesmal nur soviel: Dass DanDan den Stadtverkehr nervlich überlebt hat, grenzt an ein Wunder und macht ihn auf dieser Fahrt ganz eindeutig zum Helden der Geschichte (Helden gehen bekanntlich “in die Geschichte ein”, hab ich mir mal unfreiwillig anhören müssen).

Im Publikum selbst lernen wir eine sehr charmanten und uns in Sachen Begeisterung für den Abend kaum nachstehenden holländischen Vermögensverwalter kennen. Ein Bankier der zurückhaltend-gebildeten Bauart, von denen am Stammtisch immer behauptet wird, es gäbe sie gar nicht mehr. Wir haben viel gelacht und ihn auf Anhieb sehr gemocht. Die Tonhalle ist auf jedenfall einer der schönen Aufführungsorte, zwar sehr beladen aber damit auch ganz klar erhaben. Über allem lassen die Schweizer hier Mozart, Haydn, Schumann und Beethoven wachen, eine halb wilde und halb gesittete Mischung, wie ich meinen will.

Im Programm treffen wir auf ein Bachprogramm. Und auf eine Neuigkeit von vorn herein. Das Chorstück “Cantos Sagrados” von James MacMillen war großartig interpretiert von der Zürcher Sing-Akademie und auch sehr feinfühlig geleitet. Das Stück selbst war zwar sehr behutsam konstruiert, ohne allzu viel Effektsequenziererei und ließ auch auf Anhieb eine ganze Reihe von sehr interessanten komplexen zeichen erkennen. Dennoch war es mir etwas zu leer, etwas zu frei von Tiefe, was dann auch die wirklich großartige Interpretation nicht mehr gänzlich auszugleichen vermochte.

Die Sinfonia aus BWV 209 kommt noch etwas sperrig daher, was bei Ton Koopman eigentlich verwundert. Wenngleich die wundervolle Sabine Poyé Morel mit der Holzflöte keine Bewegung, keinen kleinen Impuls scheut, Herrn Koopman (Dirigent) einen Tick inspirierter bei der Hand zu nehmen—es hätte ihm (und der Musik sowieso) gut bekommen, wenn er sich auf dieses nur eine kleine Nuance zu zaghaft implementierte “unmoralische Angebot” etwas mehr eingelassen hätte.

Die Kreuzstabkantate zeigt ohnehin Leid und Leuterung auf eine sehr persönliche Weise, exemplarisch. Die in die Musik im Grunde bereits vorgezeichnete Leichtigkeit (“Da leg ich den Kummer auf einmal ins Grab”) wurde von einer leichten Interpretation getragen. Klaus Mertens und Ton Koopman routiniert Hand in Hand. So rauscht uns “Komm, oh Tod, du Schlafes Bruder” auch nicht romantisch um (eines der wenigen barocken Stücke, wo man das glaub ich trotzdem einfach des Affekts halber irgendwie dürfen sollen dürfte, weil’s soviel Spaß macht, auch wenn’s historisch nicht ganz korrekt ist). Die ganze Kantate und damit auch ihr Schluss kommen leicht daher, wie ein bereits vollzogener Abschied. Was durchaus mehr als passt. Aber Hubert von Goiserns mystisch-romantische Orgelraserei kann darin dann natürlich keinen Platz finden.

Pause. Guter Wein (wir sind ja in der Schweiz). Dann Grinsen: Die Kantate “Auf, schmetternde Töne der muntern Trompeten” wird von einem Spielmannszug eröffnet, die Bläser marschieren ein, die Sänger im Schlepptau. Die Kantate ist ja fröhlich, fürwahr. So ist sie geschrieben. Bach kriecht praktisch dem August von Sachsen bis zum Anschlag… Und genau da wird sie auch ein wenig traurig, nie offen, aber auf der Metaebene. Sie kommentiert im Pomp, was die Musik, deren Erfüllung in Reinform man ja Bach bisweilen nachsagt, auch so alles macht um sich selbst ein Momentum sein zu dürfen. Impulserhaltung, Überlebenserhaltung. Und das alles trifft uns nicht wegen eines inszenierten Bruchs. Da jubeln die Musiker so frei über den König von Sachsen, dass sich nur im Kopf die Frage einschleicht: “warum tun die das?” Natürlich, weil’s da so steht. Dennoch: gäbe ja auch noch andere Bach-Kantaten. Und dieser Bruch gelingt, ganz ohne allzu massiven V-Effekt, dennoch spürbar, nie im Vorwurf, nur ganz subtil. Ein bereichernder, über den Abend hinausweisender Denkanstoß. Ich liebe sowas.

Dass wir dann auch noch Franziska erleben durften, war natürlich die Krönung und gleichzeitig der ursprüngliche Impuls zu kommen. Es ist einfach unglaublich, wie ein Mensch in so unmittelbarer Bewegung in so vielfältigen Anlässen und mit einer solch scheinbaren (!) menschlichen Leichtigkeit, einen nachhaltig und wieder kehrend so tief berühren kann. Auf eine Art etwas hervorzubringen, das auf jeden Fall über das alltäglich Erlebbare hinausweist, so dass es gelingt Musik im Eigentlichen erscheinen zu lassen. Immer wieder. Und immer wieder unwahrscheinlich schön. Eine Objektivität wird mir hierbei und aus genannten Gründen nicht mehr hervor gehen.

Was für ein Tag!

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Alcina in Köln

Montag, 2. Juli 2012 11:29

Um es auch diesmal wieder vorweg zu nehmen: Die Alcina in Köln ist ganz besonders sehenswert. Einen Überblick über die Inszenierung und Handlung gibt es hier:

Überblick über die Inszenierung und Handlung (Oper Köln)

Der WDR hat sich zum Thema auch geäußert und zeigt ein wenig Einblick in die Inszenierung (praktisch für mich, dann muss ich das nicht nochmal tun).

Der WDR über die Inszenierung

Nun aber, Alcina. Bevor ich drin war schrieb ich noch “mach sie fertig.” Das erschien mir plausibel. Ich hatte vom Libretto aus gedacht. Aber es wäre nicht die Reihe von Händel-Opern, die mir gerade begegnen, wenn mich nicht auch dieser wunderschöne, lange und viel zu kurze Augenblick völlig überraschen würde. In Haltung und Vollendung der Spannung zwischen Alcina und Ruggiero kommt diese Überraschung und steht mit einer Wucht im Zusammenhang mit der kargen Inszenierung. Das erreicht meinen Verstand erst einen Tag nach der Vorstellung. Langsam und auch etwas traurig.

Wer das Video vom WDR gesehen hat, weiß bereits: diese Alcina hat keinen Zauberwald bekommen. Es gibt nur ein paar Tische und eine flache Projektion von Silhouetten, die einst Bäume gewesen sein könnten.

Im Ausklang und in der Ratlosigkeit der Postmoderne, die sich ihren Atem mit eigenen Mitteln nimmt, und die sich immer noch aber ohne anhaltenden Grund vehement gegen das zutiefst verwurzelte mythische Bedürfnis des Menschen stemmt, bleibt die Analyse und das nackte Herz das einzige was als Statement einer offenen Kulturentwertung übrig bleibt. So bleiben die wundervollen Stimmen einzig übrig, die so tief berühren. Allen voran Claudia Rohrbach (Alcina) und—jetzt hat’s mich halt endgültig gekostet—Franziska Gottwald (Ruggiero). Beide Rollen interpretiert als gefangen in so tiefer Verletzung, das man schreien will, schreien, schreien.

Die Projektion, das eigentlich Zauberhafte, bleibt hinter dem nur mehr Geträumten zurück – auch weil so der Zauberwald nicht mehr wachsen kann. Das ist keine Not als Tugend, sondern eine düstere Tugend der Not. Und die Inszenierung bezieht mit dem Inhalt und der Führung der Charaktere dazu auch eine klare Position. Aber auch nur auf diese Weise kann ich als Zuschauer später einen Wert reflektieren, der mir selbstverständlich erscheint, der aber gar nicht so selbstverständlich zu sein scheint.

Und so wurde mir erst spät klar, warum dieser Ruggiero am Ende gar nicht um seiner Entscheidung Willen erhoben werden kann. Warum er nicht, wie ich erst annahm, halb im Glück und halb in Sehnsucht gefangen werden muss. Nichts in ihm kann den Verlust der Möglichkeit (des an sich Möglichen) ausgleichen, weil die Erinnerung nicht mehr als eine Projektion ist. Keine Macht ist so innovativ und so voller Inspiration, wie die Möglichkeit. Das ist nicht nur neurologisch eine Gewissheit.

Diese Projektion aber ist leer, so wie die sichtbare Haltung zur Oper, die zwar verzaubern soll aber nicht kosten darf. Sie muss von einer Erinnerung leben, die es aus sich selbst heraus allmählich nicht mehr gibt. Von der man nehmen darf aber der man nichts geben muss. Aber so geht das nicht. Alcinas Zauber besteht nunmal aus dem Opfer ihrer Liebenden. Ohne die Verehrung und die Hingabe, entsteht der ganze Wald nicht—und auch die Götter hören nicht mehr zu. Besonders ihr nicht: Sie muss in ihrem Wesen versagen, weil man ihr das Wesentliche versagt.

Ausgerechnet in dieser tief in die Inszenierung verwurzelten Verzweiflung des Verlusts von unendlich kostbaren Schätzen der Kultur steht die Oper in einer Aktualität wieder auf. Die Beispiele der neuen Händel-Aufführungen in Basel, Freiburg und Köln stehen dafür Pate. In Köln nun aber ohne jedoch eine Antwort zu geben, die es auf sehr verschiedene Weise in Freiburg und Basel gab. Ohne eine Lösung erschaffen. Aber mit einem tief verletzten Gefühl, dass diese Schätze erhalten werden müssen—und zwar nicht aus einer Nostalgie, sondern damit sie sich im Bezug zur Zeit verändern können. Damit sie gestaltet werden können.

Faszinierenderweise spielt Alcina im Palladium. Keine hundert Meter entfernt von den Produktionsstätten der Schwarm-Dummheit (Danke, Inka, für diesen wundervollen Begriff), einer inzwischen vollkommen inhaltsentleerten Fernsehwelt, die keinerlei Opfer fordert, sieht man mal von den grauenvoll einfallslosen Werbespots ab, die aber auch keinerlei Substanz bietet, sich gar die Abwesenheit der Substanz zum wirtschaftlichen Subtrat erhebt.

Man will die Alcina nicht gehen lassen, trotz ihrer Grausamkeit. Nicht um ihretwillen (soll sie doch von mir aus zu den sieben Höllen fahren), sondern um unseretwillen. Denn, wenn sie gegangen ist und selbst nur noch Form ist, bleibt nicht mehr, was niemals da war: Danke Händel, auch für diesen musikalischen Meisterwurf, der sich am Ende verengt und verdichtet. Wie hattest Du, alter Meister, das bloß ahnen können?

Niemand kann es sich leisten, solche Schätze herzugeben. Nicht Ruggiero und schon gar nicht eine Weltstadt. Wenn ihr also Größe wollt, dann müsst ihr sie auch hergeben. Damit sie Teil der Welt bleibe. Und das ist keineswegs allein eine Frage der Abendkasse. Wer Banken retten kann, der muss auch das Wesen der Identität bewahren und ihr darin liegend den Wandel wieder einräumen—und wehe dem, der statt dessen vom Werteverfall quasselt. Der Abgrund der Alternative dazu ist zu groß. Kultur zu finanzieren ist keine Subvention eines marode wirtschaftenden Betriebs. Es ist vielmehr die Achtung vor einem Wert, der sich der Wirtschaftlichkeit entziehen muss um wirklich groß zu sein.

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Rinaldo in Freiburg

Sonntag, 17. Juni 2012 10:14

Für die eiligen Leserinnen und leser: geht einfach hin. Es lohnt sich vielfach.

Gestern hatte Händels Rinaldo in Freiburg Premiere und hat vor allem mit seiner Inszenierung mehr als positiv überrascht. Man sieht gerade darum nach wie vor ein Stück der Tugend, weil es die Tugend als willkommenes Instrument entlarvt. Den Freiburgern gelingt es, das Stück um 180 Grad zu drehen. Und jede Minute davon ist ein Genuss, ein sarkastischer fürwahr, und bei der Gelegenheit ein reichlich willkommener.

Rinaldo tut das, was ein Christ nun tun muss: er leidet anständig vor sich hin. Drei Akte lang, kurz ist sein Glück, das auch eigentlich keines ist—wer will schon wirklich Almirena haben (großartig herausgearbeitet von Aleksandra Zomojska). Ansonsten liegt Rinaldo zerfetzt, durchbohrt, aufbäumend, dämmernd oder gar ganz weg getreten, während die Herrschaften sich verlustieren und sich genüsslich über die Tugend und das Opfer auslassen, das ein jeder nunmal für sein Glück zu bringen habe. Zu allererst Goffredo, der von Ehre schwallt, ohne selbst welche zu haben oder sie sonderlich zu vermissen. Steigt mal eben über Kinderleichen, die er gerade noch als Furien bekämpfen ließ und singt feierlich von der Tugend. Er ist ein wundervoller Vertreter der Bigotterie und der Gelegenheitsmoral, mit dem ebenso ein ganzer gefühlter Chor des Pathos einherschreitet.

Im ersten Akt fragt man sich noch, was Rinaldo da wohl eigentlich von der Almirena will. Er liebt sie halt irgendwie. Aber warum eigentlich? Es kann ja kaum für ihre herausragenden Eigenschaften und Charakterzüge sein, von denen sie reichlich vermissen lässt. Und so richtig begehren wird er sie die kommenden drei Akte auch nicht wirklich. Dennoch kauft man ihm ab, dass er liebt. Ihr nicht, und zwar gerade weil sie’s so blumig zum Ausdruck bringt. Sie steht nur orientierungslos in “irgendwelchen” Kriegswirrungen rum, liebt es schonmal Hochzeitskleider auszuprobieren und ist ansonsten, das was man da von ihr erwarten will: in der Inszenierung auffallend kalt und herzlos—unglaublich gut gezeichnet. Gleich am Anfang sieht man sie mit Goffredo fröhlich Sonnenbrillen ausprobieren während Rinaldo vor sich hin krepiert. So stehen die beiden ohne einen wirklichen Berührungspunkt in komplett fremden Welten nebeneinander und geben sich einer nichtmal ausgedehnten Projektion der Glückserfüllung hin.

Und was passiert mit den schönen lyrischen Arien im Rinaldo? Sie finden natürlich statt, zeigen einstweilen Menschen beim virtuosen Leiden (Rinaldo) oder andere gefangen in ihren Rollen, die zu groß für sie sind (Goffredo, Almirena—sogar “Lascia ch’io pianga” funktioniert in der Inszenierung einwandfrei) oder wieder andere, die aus einer eigentlichen Stärke sich in dem Luftgespinst der verirrt-konstruierten Liebe wiederfinden und letztlich daran zu Grunde gehen (Armida, Argante). Und was macht Mago da noch? Er bleibt ein Geheimagent der Zauberei, des Wissens, doch ist er eben skrupellos geworden. Wer will es ihm verübeln?

Achja, natürlich wird nebenher Jerusalem erobert. Aber so richtig zentral ist das nicht. Rinaldo konnte sich immerhin gerade so hinreichend beweisen, dass er nun Almirena bekommt. Von der hat er eigentlich nicht so viel: er zieht sich gleich wieder zum Leiden zurück. Argante ist hoffnungslos, weil halt verknallt und zu schwach für Armida. Armida, die wundervoll inszenierte Zauberin, schafft zwar sich zu befreien, trägt aber keinen Sieg mehr davon (so will es ja das Libretto). Man hat bestenfalls mit ihr am Ende Mitleid. Brillant war es gleich mehrfach, die Furien mit Kindern und Jugendlichen zu besetzen. Denn erstens konnte Goffredo so am Ende Kinderleichen zur Seite treten, als er von der Tugend sang, und zweitens waren die Scharen mit den Bögen bedrohlicher und grausamer, ursprünglicher und überzeugender als dies mit erwachsenen Statisten möglich gewesen wäre. So erleben wir am Ende eine psychologisch abgründige, unaufgelöste (weil unauflösbare), finstere Analyse, die der Rechtfertigung oder dem Schicksal wenig Spielraum lässt—und das ist gerade das Gute daran: die mit einem sadistischen Grinsen vorgetragene Auswegslosigkeit. Bravo, Tom Ryser und Heiko Voss für die Dramaturgie und Regie.

Die Besetzung ist gut und hat ebenfalls schöne Ideen. Eine sehr gute Aufführung, der ich das Unrecht ersparen muss, sie mit den jüngsten Eindrücken aus Basel zu vergleichen—das geht trotz der genial ausgedachten Inszenierung nicht. Xavier Sabata hat einen ganz wundervollen Rinaldo gesungen, klar und rund—und das merkt man interessanterweise vor allem in den Duetten (aber nicht bloß da). Sally Wilson gelingt eine von dominanter Attraktivität geradezu strotzende Armida, durchweg sexy und mit stimmlicher Macht. Und Christoph Waltle gibt den Goffredo so vorzüglich widerlich und dreckig, dass an dieser Abstoßung die ganze Drehung aufgehängt werden kann. Trotz Julia Jones vollem Einsatz gelingt es dem Freiburger Philharmonischen Orchester nicht immer, der im Wechselspiel mit den Sängern geforderten Dynamik Herr zu werden. Manche Momente bleiben so hinter der Dynamik verborgen oder verheddern sich kurzfristig und gelegentlich in fehlendem Zusammenspiel.

Alles in Allem, wie ich eingangs schon riet: Auf jeden Fall hingehen. Es lohnt sich sehr!

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Ariodante in Basel

Montag, 21. Mai 2012 8:23

Oha. Die Kritiken hatten sich ja schon überschlagen. Was es gestern in Basel zu hören und zu sehen gab gehört auf jeden Fall zum Besten, was ich je erleben durfte. Superlative liegen auf der Zunge. Und zwar in allen Bereichen. Das habe ich in der Oper überhaupt noch selten erlebt.

Franziska Gottwalds Ariodante aber ist überirdisch, tief, wahr und zu gleichen Teilen von so beeindruckender Stärke und verletzlicher Hingabe, dass man’s während man da sitzt und’s gerade noch erlebt nicht für menschenmöglich halten mag. Stimme, Interpretation und Präsenz so einwandfrei und groß. Wär’ ich nicht da gewesen, ich würd’s nicht glauben.

FG: + 1 Fan.

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