Das Verwirrende am Studienbeginn

Wer ein Studium beginnt, steht vor einer Menge ungeklärter Fragen. Die meisten davon haben zunächst einmal gar nichts mit dem Fach zu tun, das man sich als Disziplin seiner Wahl gerade eben mehr oder weniger informiert ausgesucht hat. Über die meisten Fächer ist mal als Schulabgänger ohnehin nicht im Klaren, werden doch an Schulen nur eine verschwindend geringe Anzahl an namentlich identischen Fächern überhaupt angeboten (die Gründe dafür müssen vermutlich hier nicht erörtert werden). Viele Fragen befassen sich mit einer neuen Lebenssituation, Wohnung, Geld (und sei es durch dessen Abwesenheit), mit neuen Freunden und neuer Art von Freundschaft, mit alten und neuen Partnerschaften.

Das Nachtleben der neuen Stadt möchte entdeckt werden. Die Nächte werden noch länger als ohnehin schon gewohnt. Aufregend ist’s. So sehr sogar, dass ich mich bildlich an so manche Szene meines eigenen Studienbeginns erinnern kann. Sitzt man dann erst im Hörsaal—so heißt das gelegentlich etwas größere Klassenzimmer fortan—so erinnert manches zunächst an alt Bekanntes. Voller Erwartung sieht man nach vorne, wo jemand auftaucht, der zwar auch nicht danach aussieht, als hätte er mehr Ahnung vom Leben als man selbst (eher weniger), aber über den wohl irgend ein schlauer Mensch eines Tages mit Sinn und/oder Vertand entschieden hat, dass er nun in seiner Disziplin auf Menschen losgelassen werden darf. Soweit vertraut man dann, schaden kann’s ja nicht und Abbrechen ist ja auch keine Schande. Macht der da vorne seinen Job wirklich gut, dann wird man eben überrascht. Zumindest wie Schule ist das dann nicht. Vorher fanden wir noch Sätze normal, die etwa so klingen:

“Bis Morgen bitte die Seiten 5-32 und die Aufgaben 2, 3 und 7 bearbeiten”.

Man wundert sich, dass das in den meisten Veranstaltungen so nicht mehr ist. Erst wundert man sich darüber, wie viel man selbstständig organisieren muss. Später wundert man sich darüber, in welchem Umfang man für die eigene Ausbildung selbst zur Verantwortung gezogen wird. Auch in neuen gestuften und modularisierten Studiengängen ist das der Fall. Es reicht plötzlich nicht mehr aus, einfach die Vorgaben zu erfüllen. Plötzlich darf ich mich selbst um alles kümmern. Also: darf, weil das eigentlich ein Privileg ist. Dennoch muss etwas herauskommen. Was das jeweils ist, gibt in einigen Studiengängen das Profil oder eine Spezialisierung vor, in anderen ist das schon schwieriger. Es gibt Fachbereiche, da schafft man sich später den Arbeitsplatz selbst. Das liegt nicht etwa daran, dass einen niemand braucht, sondern, dass man im Einzelfall erst gegenüber dem zukünftigen Arbeitgeber einmal aufklären muss, was man eigentlich alles kann. Das hängt wiederum damit zusammen, dass nicht jeder Absolvent das gleiche kann. Was erst einmal klingt, wie eine faule Ausrede, ist in Wirklichkeit eine besondere Auszeichnung: manchmal spezialisiert sich das Profil bis zur Einzelperson. Zum Einzelprofil. Das ist bei unterschiedlichen Fortbildungen in klassichen Berufen eigentlich genau das gleiche. Die einen haben diese Zertifikate und Qualifikationen, die anderen haben wieder andere. Das tatsächliche Profil unterscheidet sich auch hier. Das begegnet einem in unterschiedlicher Form auch gleich zu Beginn in den Veranstaltungen. Manche können einen da ganz schön entmutigen, indem sie sagen, dass es für dieses Fach ohnehin keine Stellen in der Wirtschaft gäbe. Andere widerum machen einem Mut, einen eigenen, flexiblen Weg zwischen all den Möglichkeiten zu finden. Einen Expertenweg. Experten sind immer spezialisiert; und an einer Universität sollen bekanntlich Experten ausgebildet werden. Aus einem Ausbildungsprogramm wird so ein Ausbildungsangebot. Das unterscheidet bis herunter zur die Veranstaltung die Uni deutlich von der Schule, und es führt unter anderem dazu, dass es im Unibetrieb oft weit weniger “konkret” zugeht—das fühlt sich aber nur so an. Was Studierende eingangs oft wollen, ist von uns ein Rezeptwissen vermittelt zu bekommen—dieses gilt unter den Studierenden aus durchaus erklärlichem aber irreführendem Grund als besonders “berufsorientiert”. Gerade das liefern wir als Hochschuldozenten aber selten (die Gründe dafür sollen in einem gesonderten Beitrag folgen). Also trägt auch das zunächst zur Verwirrung bei. Nicht alle Lernstrategien, die in der Schule von Schülerseite als erfolgreich gelten, haben an der Universität bestand. Vor allem das klassische “pauken”, das Auswendiglernen von Texten und Inhalten gestaltet sich schwierig. Weil plötzlich mehr Inhalte da sind, und die Anforderungen diese Inhalte zunächst zu begreifen und dann auch noch weiterführend in Schlussfolgerungen über noch unbekannte Bereiche umzusetzen (Transfer nennen wir das) für manche neu sind. Einige bringen diese Fähigkeiten auch aus der Schulzeit mit. Manchmal sind es nicht diejenigen, die gewohnt waren, mit den besten Schulnoten bedacht zu werden. Das führt für alle zu Überraschungen, für manche zu Frust und bei anderen zu Jubel. Strukturen, die durch neue Studiengänge (z.B. BA/Master) eingeführt werden, erinnern bisweilen in ihrer Beschaffenheit mehr an Schule, als die alt- oder ausgedienten Studiengänge. Das scheint beginnende Studierende gerne zusätzlich zu verwirren. Da hilft’s dann, einen Schritt zurück zu tun und sich zu überlegen, was alles an Angebot vorhanden ist. Unsere Gesellschaft (bei aller vorhandenen Meckerei) leistet sich aus gutem Grund einen enormen Aufwand in der universitären Ausbildung. All das kann natürlich verbessert werden, jedoch ist der Status, mit dem wir ausbilden können, bereits ein sehr aufwändiger. Also darf man das Angebot, das da vor einem liegt, die Räume, die Lehre, die Zusatzausbildungen, die Infrastruktur, die Technologien gerne zur eigenen Ausbildung nutzen—dafür ist all das errichtet worden. Viel von dem, nach was man so dringend Antworten sucht, ist bereits vorhanden. Wer einmal mit diesem Gedanken im Hinterkopf eine (übrigens für jeden frei zugängliche) Universitätsbibliothek oder Fachbereichsbibliothek betreten hat, kann nachvollziehen, woran ich gerade zu denken versuche.

Wer nach all dem irgendwann den Mut besitzt, die Erkenntnis zu wagen, die eigene Ausbildung in eigener Hand zu tragen und dennoch dabei auf vielfältige Weise unterstützt zu werden, hat einen der wichtigsten Schritte zum Expertentum bereits getan. Eigenständigkeit ist dabei ein ganz wesentliches Stichwort. Wenn ich nun gefragt würde, ob es auch nur irgend etwas an der immer wieder erwähnten Verwirrung verändert, wenn man sich all das vor Augen führt? Ich würde sagen, dass es die Verwirrung verändert. Ob das für das eigene Leben subjektiv so das beste ist, kann ich nicht beantworten—für die Ausbildung ist das etwas Wesentliches, etwas Zentrales—und wird in diesem Sinne ganz sicher voran bringen.

Tags »

Autor:
Datum: Sonntag, 11. September 2005 20:46
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Hochschullehre

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Diesen Artikel kommentieren

Kommentar abgeben

Login erforderlich