Der Plattenladen an der Ecke

Ein wenig seltsam wird mir immer, wenn ich merke, dass sich die Welt mal wieder bedeutend weitergedreht hat. Dann ärgere ich mich, weil ich mir altklug vorkomme, leider ohne dabei klug zu sein. Aber das Gedächtnis spielt einem den einen wirklich gemeinen Streich: Es funktioniert bisweilen. Wie kommt man eigentlich an gute Musik? Okay, Ihr könnt da draußen sagen: Radio hören! Alles klar, aber ich meinte jetzt gute Musik. Das ist für mich unter anderem auch noch etwas Unentdecktes. Viele beklagen die Abwesenheit von Musik in den Charts. Das stimmt auch, aber wundern soll’s einen nicht. Die Musik-Charts haben nix mit Musik zu tun. Das ist Mode, vielleicht Popkultur, irgendwie. Da ist die Musik selbst wieder ein Medium, ein gern genutztes. Um diese seltsamen Kalender, Poster und Videos—rundum: die Devotionalien zu verkaufen, die Mode, den Lifestile. Dem sollte man eine eigene Existenzberechtigung ja gar nicht absprechen. Bisweilen ist’s ja sogar lustig. Aber wir sind ja Individualisten. Solche, die über die eigenen Bedürfnisse selbst entscheiden, also uns selbst umhören und alles. Oder? Wir würden uns doch nie und nimmer eine vorgekaute Auswahl in fertigen Portionen und Verpackungen auch noch vorschreiben lassen. Schon gar nicht, wenn’s um so etwas komplett individuelles geht, wie den Musikgeschmack. Nicht wahr? Zurückgespult. Menschen und Kinder, Menschenskinder also, da hat man sich doch zu einer Zeit noch extra zum Musikhören getroffen. Also zum Zuhören wahrhaftig. Nebenbeidudeln, das konnte ja jeder, klar, aber Zuhören, das war nun schon was ganz Feines. Und dann auch noch etwas darüber herausfinden—vielleicht ein wenig auf übelste aber ebenso angeregte Weise im Unsinn herumphilosophien. Hand auf’s Herz: wie lang ist’s her? Aber wie denn nun, Zeit ist Zeit und davon hat man ja jetzt auch weniger, außerdem gibt’s da draußen ja sowieso nichts mehr, was einen noch vom Hocker hauen könnte. Da muss das Radio, die so genannte “heavy rotation” wieder her, wo die größeren Labels ja bekanntlich hinter vorgehaltener Hand dafür zahlen, dass diese und nur diese Auswahl an Stücken immer und immer wieder, tja, geduldelt wird. Keine Sorge, ist kein Zeitgeist, war schon immer so. Konnten seiner Zeit nicht einmal Pink Floyd mit “Another Brick in The Wall” (man erinnert sich vielleicht, 1980) nach einem riesengroßen Life-Konzert gegen an—aber sie haben es immerhin versucht. Wer’s recherchieren will (und viel mehr lustiges aus dem Musikbusiness), mag nachsehen in:

Buch Dannen, Frederic (1990): Hit Men. Power Brokers and Fast Money Inside the Music Business, Crown

Aber Moment mal? Wie geht das jetzt weiter? Tauschbörsen sind ja nun wirklich illegal und gleichzeitig voll mit Schrott (benutzt die Teile eigentlich jemand außer 15 jährigen?). Radio voll mit Payola-Heavy-Rotation. MTV und VIVA haben, machen… ach… alles klar? Beim “Reinzappen” schon zum fünfzigsten mal das gleiche, langweilige MTV-Masters gesehen, das an identifizierbarem Strickmuster vielleicht nur noch durch die schrecklichen Making-Of Beiträge auf DVD’s getoppt wird—“and everybody did a tremendous job, everyone was so nice an we had all so much fun and the director is the best I can think of”. Heda! Internet… Fehlanzeige? Man könnte jetzt meinen, dass man keiner Zielgruppe angehören muss. Zwar kann man sich CD’s inzwischen leisten—und zwar dermaßen, dass man locker Vielkäufer würde (das ist man ja schon ab 10 CD’s im Jahr), aber woher kommt denn das Angebot? Früher konnte ich mir doch nur eine Platte (thihi, Nostalgiker!) vom sauer ersparten Taschengeld leisten—und hab sie trotzdem gekauft! Hilfe? Hier ist ein einsamer, leiner Konsument, konsumwillig, ach, was sag’ ich: konsumwütig—und es existiert kein Markt? Kann denn das sein? Soll ich jetzt für gute Musik anstehen?

Da kommt mir wieder eine komplett und ultimativ völlig versponnene Idee in den Sinn. Die ist so nostalgisch, dass ich zunächst keine Ahnung habe, ob sie funktioniert. Gibt’s eigentlich die Jungs mit ihrem Plattenladen um die Ecke noch? Ja, es gibt sie. Sie sind weniger geworden. Aber es gibt sie noch. Wackel ich, ohne zu wissen, wie man sowas heute “cool bringt”, dorthin. Frage vorsichtig nach etwas, was “nicht Charts und Radio” ist, was Abgefahrenes, was irgendwie Seltsames, etwas, dass mich mitreißen kann. Wie dem die Augen übergehen! Der freut sich! Und dann berät der mich zwei Stunden lang. Legt CD’s auf (weil Platten ja kleiner geworden sind inzwischen, das habe ich noch mitbekommen). “Hmmmja”, “Hmmmnöööö”, ich bin hier Kunde, toll! Gutgut, ich lass’ dann am Ende mehr Geld da, als ich ursprünglich wollte. Das liegt aber eher an der Menge an CD’s, die ich erwerbe und weniger an den Preisen—die sind sogar meist billiger als in den einschlägig bekannten Glitzermeilen der Kaufhäuser, in denen inzwischen überhaupt kein Fachpersonal mehr arbeitet. Auf den CD’s stehen absonderliche Labelnamen, manchmal wiederholen sich die Labels. Grandios selten sind’s die Großen. Nach Hause gehe ich mit einem Grinsen und mit Schätzen völlig unterschiedlichen Genres, die tonnenweise unter dem Ladentisch hervorgekramt wurden. Neben dem Erwartbaren, gibt’s noch eine große Jazzabteilung und es gibt auch Klassik, solche sogar, die sich vom 1000sten blöden Mozart-Sampler freudig zu unterscheiden weiß. Freunde fragen mich: “wo hast Du bloß immer diese abgefahrenen Sachen her?”. Natürlich verrat’ ich’s ihnen. Die Ladenparty zu zweit wird dann noch viel genialer.

Danke Ihr Jungs mit den Plattenläden da draußen! Das ist bestimmt nicht immer ganz einfach, diese Läden gegen den Zeitzahn der Belanglosigkeit aufrecht zu erhalten. Ihr habt meinen tiefen Respekt vor Eurer Arbeit. Achso, ja: und mindestens einen Kunden mehr.

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Datum: Montag, 12. September 2005 17:29
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