Vom Web 2.0

Ein Wesentliches unterscheidet die wissenschaftliche Begriffsbildung von der des Marketing. Der wissenschaftliche Begriff zielt auf Definition, d.h. einen Begriff so präzise wie möglich zu schaffen. Daher gibt es in der Wissenschaft auch unzählige Begriffe, weil ein Alltagsbegriff einfach nicht alles präzise zusammenfassen kann. Im Marketing zielt die Begriffsfindung auf Assoziation. Mit einem Begriff sollen möglichst viele unterschiedliche Dinge assoziiert werden. Das ist dann insofern praktisch, weil’s die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass viele Leute dem Begriff zustimmen.

Ein Beispiel: Sagen wir mal so etwas, wie: ”wir müssen unsere Werte erhalten”. Genauer zu untersuchen wäre hier der Begriff “Werte”. Dem Satz stimmen sicherlich viele (nicht alle) Menschen zu. Weil sie unter dem Begriff “Werte” alle etwas Unterschiedliches verstehen—und zudem etwas, was ihnen wichtig ist. Welche Inhalte der Begriff konkret hat, ist dabei egal. Es sollen ja viele Menschen zustimmen. Andererseits ist die Aussagekraft im Hinblick auf Handlungsmöglichkeiten praktisch nicht mehr vorhanden. Wenn jeder unter dem Begriff etwas anderes versteht, dann gibt es auch keinen echten Konsens, was darauf zu tun wäre. Der Begriff ist für sich genommen leer und funktioniert gerade aus diesem Grund.

Auf geradezu groteske Weise wurde so ab 2004 der Begriff Web 2.0. Viel zu leicht könnte man sich vorstellen, jemand habe nun ein neues Internet mit neuer Funktionalität gestaltet. Das ist jedoch nicht der Fall. Es gibt neue Anwendungen und neues Nutzungsverhalten. Das war’s auch schon.

Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie besitzen seit einigen Jahren einen Herd mit Ofen (fast jeder besitzt ja ein solches Schmuckstück). Nun stellen Sie sich vor, sie haben diesen Ofen ab und zu verwendet. Zum Brotbacken, Auflauf machen, ein paar Auberginen überbacken etc. Eines Tages finden Sie im Laden ein Kochbuch, das Ihnen spontan zusagt: Klare Beschreibungen, jeweils genannte Alternativen, schöne Bilder, spannende Einleitungen. Es geht um Gratins, jene leckeren in Formen angefertigten Köstlichenkeiten für 2 bis mehr Personen. Sie verwenden Ihren Backofen ob der Begeisterung (Ihrer eigenen und der Ihrer Freunde und/oder Liebsten) nun häufiger. Wir halten also fest: Ihr Nutzungsverhalten hat sich geändert und sie haben eine neue Anwendung entdeckt. Käme es Ihnen komisch vor, wenn ein Marketing-Fuzzy kommt und Ihnen erklärt, Sie besäßen nun einen “Ofen 2.0”? Ja?

Versionsbezeichnungen zielen auf technische Innovationen, zumeist innerhalb der kontinuierlichen Entwicklung von Software. Es kann also einen “Browser 2.0” geben, oder einen “Chatapplikation 2.0”, auch kann es eine “Videokonferenzsoftware 2.0” geben. Theoretisch ist es auch denkbar, dass es dereinst ein “Internet 1.5” geben könnte, wenn sich die Basisprotokolle merklich ändern—und ältere Versionen, Clients usw. dann nicht mehr funktionieren. Dann aber spielt die Entwicklung auf die Technik des Internets an und nicht an deren Nutzungsverhalten.

Stellen Sie sich vor, der Anbieter Ihrer Bildbearbeitungssoftware bietet Ihnen ein Versionsupdate (z.B. auf die Version 4.6) an, wobei sich die Software in nichts von der vergangenen Version unterscheidet—allein Ihre Bilder haben sich geändert… sagen wir mal, Sie fotografieren jetzt doch lieber Häuser als Menschen… würden Sie das kaufen? Genau das erwarten das Marketing vom Markt: “Kaufen Sie eine Software, die sich nicht geändert hat, die aber anders genutzt wird.” Wird das tatsächlich entegegen aller Erfahrungen aus der Vergangen schon wieder zum Hype, dann platzt die Blase erneut—nur diesmal eben bedeutend schneller.

Tags »

Autor:
Datum: Mittwoch, 6. September 2006 11:26
Trackback: Trackback-URL Themengebiet: Politik und Gesellschaft, Technik

Feed zum Beitrag: RSS 2.0 Diesen Artikel kommentieren

Kommentar abgeben

Login erforderlich