Weimar ist ein Glockenschlag

Zwischen Gutachten, Korrekturen, spannenden neuen Ideen zur Simulation von Lernern, Texturen und Alltagen vielerlei aber nicht allerlei Sorten und Färbungen komme ich auf den Sophienstiftplat. Später werde ich rausfinden, dass ich genau mit der richtigen Stimmung hier angkomme. Hier steht der Kiosk 6 und es ist wenige Minuten vor 22 Uhr.

Da ist es dunkel genug für Kathrin Baumanns Fenstertheater. Offiziell gesehen ist das hier eine Diplomprüfung (genauer: Diplomverteidigung) im Fach Freie Kunst an der Bauhaus Universität zu Weimar. Technisch gesehen wird hier ein Film laufen, der aber weder ein klassischer Film noch eine Videoinstallation ist. Der Kiosk 6 wird zum Fenstertheater und birgt Platz für ein Fenstertheater, das seinerseits als innere Mauerschau in einer Danksagung an Weimar, die Stadt, den Ort, die Heimat, mündet, wobei diese spezifische Perspektive wohl allein dadurch möglich wurde, dass die Künstlerin durch die anfänglichen Wirrungen sich selbst in den wiederkehrenden Mustern entdeckt hat. Sie hat es den Menschen der Stadt auch ganz direkt mitgeteilt. Im Theater sehen wir dann, dass sie es auch dem Brunnen, dem Pflaster und den Fassaden mitgeteilt hat. Heute teilt sie es der Stadt mit.

Im Wiederklang mit dem Besenmann, dem Flaschenmann, der Traditionsbäckerei. Pflastersteine bekommen Pflaster in einem musikalisch-inspirierenden Muster. “Wenn ich ein Vöglein wär”, und wär’ ich’s, dann flög ich. Das will man dann für sich selbst direkt glauben. Der Ort der Inszenierung spielt eine Rolle. Hier treffen fünf Straßen auseinander. Gerade so, wie aus dem Fensterblickwinkel der Künstlerin. Ich habe bereits festgestellt: Technisch ist das ein Film. Er wäre also technisch gesehen wiederholbar. Weil der Moment, das Theaterereignis, den Raum mit einschließt läuft der Film ein einziges Mal ab. Hier. Dann niemals wieder. Und das ist noch nicht alles. Hinten am Kiosk läuft ein anderer Film, es passiert dort etwas anderes. Das sehen nur diejenigen, die sich aus den grünen, bequemen Sesseln erheben. Sie sehen aber wieder die andere Seite nicht. Gerade, so die Künstlerin, als müsse man sich in der eigenen Wohnung entscheiden, ob man dem Geschehen aus dem vorderen Fenster oder aus dem hinteren Fenster Beachtung schenkt. Wir sehen also grundsätzlich nicht alles. Und ich muss dort sein. In der Stadt, der dieses Dankesstück gewidmet ist. Ohne Frage, dass sich myriadenfache Inspirationen breit machen. Sich entscheiden dürfen ist etwas anderes als sich entscheiden müssen. Mit Leichtigkeit betritt die Künstlerin Miniaturwelten im Gras an der Ilm, balanciert sie halbtransparent als Bestandteil des Theaters auf der langen Bank, der sie, wie sie sagt “Gesellschaft leistete.” Weil es ein Film ist, sehen wir die von Schauspielern abverlangte hingebungsvolle, geistige Nacktheit nicht. Es ist eben ein darüber erhabenes, ein Fenstertheater, das mich an der Introversion, am In-Dich-Gekehrt-Sein teilhaben lässt, ohne mir das jemals aufzuzwingen. Im Erleben weisen die losen und die festgezurrten Enden des Stücks über die (im Grunde zutiefst materielle) Reproduzierbarkeitsannahme von festen Sequenzen hinaus, und gerade damit mit einem unglaublich großen Schmunzeln auch über die Initiationsriten von Prüfungen dieser Art. Der Blick, so (er)scheint es immer wieder, zeigt sich selbst den eigenen Schnittpunkt mit dem Anker, den er selbst der Vernunft spielerisch entrissen hat.

Und ganz am Anfang schon, als die Künstlerin die Stimme erhebt und im Kontrast zu den Weimar-Interviews (vermutlich mit Passanten) sagt: “Weimar ist ein Glockenschlag”, in einer Prägnanz, die Perspektive unmittelbar erlebbar macht, da merke ich, bin auch ich angekommen.

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Datum: Samstag, 9. Juli 2011 0:44
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