Warum gute Rezepte Experten nicht weit bringen

Wir haben ein ganz klassisches Bild von Experten. Das sind Menschen, die in kritischen Situationen noch Antworten haben, die sich besser auskennen als alle anderen, die viel hilfreiches Wissen und Hintergrundinformationen haben und die das alles auch noch sinnvoll zur Anwendung bringen können. Natürlich brauchen wir Experten und wollen Menschen an unterschiedlichen Orten dazu ausbilden. Dazu müssen wir wissen, was Experten genau können. Meist wollen wir zunächst wissen, was die Experten wissen, damit wir dieses Wissen anderen Menschen anbieten können. Ein guter erster Ansatz ist es, Experten bei der Arbeit, also beim Experte-Sein, zu beobachten. Dann haben wir einen ersten Eindruck, wie sie in verschiedenen Situationen vorgehen. Wenn wir eine zeitlang beobachten, finden wir typische Vorgänge, die wir beschreiben können. Solch eine Vorgehensweise nennen wir “Aufgabenanalyse”. Dann können wir natürlich die Experten auch direkt befragen. Wir können sie befragen, was sie über bestimmte Dinge genau wissen und wie dieses Wissen organisiert ist. Dazu gibt es viele sehr ausgefeilte Instrumente. Bei uns nennt man solche Verfahren “Wissensdiagnose” (meine Dissertation befasst sich unter anderem mit der Entwicklung eines solchen Verfahrens). Wenn wir Experten ausbilden, so könnte man denken, muss man diese beiden Beobachtungen, also typischen Aufgaben und ihre Lösungen durch die Experten einerseits und deren Wissen andererseits sinnvoll zusammenbringen. Dann müssten wir nur noch einen Ablauf erarbeiten, in dem sich Menschen gut zurechtfinden können, bis sie am Ende über beides verfügen. Das Schöne daran ist, dass das auch funktioniert. Nur kommen hinterher eben keine Experten heraus, sondern gut informierte Anwender, die ihrerseits in vielen Bereichen gute Arbeit leisten können. Viele jüngere Studierende steigen bei dieser Frage mit einem gern angebrachten Argument aus. Das besagt, dass Experten ja zu den beiden Aspekten zusätzlich über viel Erfahrung verfügen und das eben durch nichts ausgeglichen werden könne. Das trifft die Sache allerdings nur sehr ungefähr. Was stimmt ist, dass wir während der “Aufgabenanalyse” unmöglich alle denkbaren Aufgaben beobachten werden. Auch dann nicht, wenn wir sehr lange beobachten. Wir bekommen also immer nur einen Ausschnitt geeigneter Fälle, die eine erfolgreiche Lösung ermöglichen. Wir könnten diese Fälle auch Rezepte nennen, denn so werden sie gerne notiert. Ein Irrtum ist allerdings, dass die Experten alle Aufgaben, die sie prinzipiell lösen können, auch bereits schon einmal gelöst haben müssen. Das ist natürlich Unsinn—wie sollten sie denn die Aufgabe zum ersten Mal lösen, wenn sie die Lösung nicht gezeigt bekommen, wenn’s also von Erfahrung abhängt (und das war ja der Aufhänger)? Experten müssen also noch über mindestens eine weitere verborgene Fertigkeit verfügen, die wir bislang nicht beobachtet haben—vielleicht sogar über viele solcher Fertigkeiten. Über diese Fertigkeiten ist in der Tat viel geschrieben, gestritten und diskutiert worden—sowohl von Wissenschaftlern als auch von interessierten Laien. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass Experten neue Lösungen aus dem Stand finden können, gerade ohne Erfahrung in einer spezifischen Aufgabe zu haben. So wird sich beispielsweise eine gute KFZ-Mechanikerin auch an einem Auto, dass sie nicht kennt, die wesentlichen Konstruktionen erschließen können—auch wenn es ihr bei dieser Maschine an Kenntnissen fehlt. Sie wird vermutlich sogar in der Lage sein, einen Bootsmotor zu inspizieren, auch wenn sie noch nie zuvor einen gesehen hat. Sie hat also auf irgend eine Art gelernt, etwas zu schlussfolgern, dass sie dazu in die Lage versetzt. Das kommt aber nicht aus der Kenntnis von Rezepten oder von abrufbarem Wissen. Auch die Annahme, man könne aus der Kenntnis von fünf Rezepten auf ein drittes automatisch (also: ganz von allein) schließen, erweist sich als falsch. Da kommt offenbar etwas anderes ins Spiel, was für Expertise unschlagbar wichtig ist. Es gibt verschiedene Ansätze, solche Fähigkeiten zu trainieren. Alle haben eins gemeinsam: Sie versetzen “Experten in ihrer Ausbildung” in Situationen, in welchen sie unmöglich einfach Wissen abrufen können oder ein Rezept anwenden können. Sie müssen also Fähigkeiten trainieren, die sie in die Lage versetzen, ausgerechnet bei unbekannten Problemen auf gute Lösungen zu kommen. Gute Ausbildungen führen so etwas in simulierten Umgebungen durch (z.B. Flug- und Kraftwerkssimulatoren, Planungsszenarien usw.). Von den Auszubildenden wird damit der Streß genommen, dass wirklich Schaden entsteht, wenn sie eine falsche Entscheidung treffen. Außerdem können sie sich auch die Folgen von Fehlentscheidungen genau ansehen. Gegen Ende der Ausbildung kann man die “neuen Experten” dann behutsam unter Begleitung an echte Entscheidungsszenarien heranführen. In jedem Fall lernen die Experten dann, sich sogar von einst erfolgreichen Rezepten zu entfernen. Solch ein Vorgehen ist von Auszubildenden in Ingenieurs- oder Naturwissenschaftlichen Fächern aktzeptiert—ich habe hier ja auch derartige Beispiel gewählt. Dass so etwas auch für Geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer gilt, ist da weniger bekannt. Die Folgen von Fehlentscheidungen werden hier gerne als weniger schwerwiegend eingeschätzt. Dass eine Bildungsentscheidung beispielsweise die Biographie von vielen verändern kann, merkt man erst beim zweiten Hinschauen. Eine gut ausgebildete Ärztin trifft jedoch später eine bessere Entscheidung—die Folgen sind hier erst nach längerer Zeit sichtbar. So sind auch bei uns Entscheidungsträger, also Experten, die lediglich über Rezepte verfügen, unzulänglich—es ist nur eine Frage der Zeit, in der sie eine Entscheidung treffen müssen, für die wir sie nicht vorbereiten konnten. Also trainieren wir die für Experten so unbedingt wichtigen Fähigkeiten so genau wir nur können. Das bedeutet auch, dass automatisch bei begrenzter Ausbildungszeit, das eine oder andere Rezept nicht in aller gebotenen Ausführlichkeit behandelt werden kann. Aber Rezepte lassen sich von angehenden Experten auch im Alleinstudium nachbereiten (es gibt sehr gute Bücher mit sehr guten Rezepten)—die Fähigkeiten, die man zu begründeten Schlussfolgerungen in neuen Situationen braucht, sind nicht im Alleingang erlernbar. Es sei denn man kann es sich leisten, viele Fehlentscheidungen zu fällen bis man dann auf natürlichem Weg die nötige “Erfahrung” dazu mitbringt. In diesem Sinn führt uns gerade die berufsorientierte Ausbildung gerne weg von den konkreten Fällen—sie alle zu behandeln würde zweifelsohne Jahrzehnte dauern, während die Wahrscheinlichkeit, genau die später in der konreten Situation gebrauchten Fälle zu behandeln sehr gering ist. Auch dann, wenn man eine sehr gute Idee davon hat, was an Standardfällen im Allgemeinen üblich ist.

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Datum: Dienstag, 20. September 2005 14:20
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Ein Kommentar

  1. 1

    Wenn ich das richtig verstehe, dann sind wir einer Meinung. Es geht in erster Linie darum. Menschen zu befähigen Aufgaben lösen zu könne. Dies geschieht aber nicht damit, dass sie ein Anleitung dafür bekommen, sondern dadurch, dass sie in ihren geistigen Fähigkeiten so weit geschult werden, dass sie sich Lösungen selbst aus ihrem eigenen vorhandenen geistigen Mitteln erarbeiten können.

    Das ist das, was ich u. a. an der Ausbildung der Mediziner kritisiere (da habe ich zufällig eigene Erfahrungen). Es werden Hunderte von Fällen durchgespielt, damit sich die zukünftigen Ärzte an alle möglichen Situationen gewöhnen und dann „wissen“, wie sie zu handeln haben, statt einfach das logische Problemlöseverhalten zu schulen. Klar praxisnahes Fachwissen ist nötig, aber was mit den ganzen Beispielen eigentlich erreicht werden will ist, dass die Mediziner in Extremsituationen richtig handeln können. Leider erreicht man das nicht durch das Vorbeten solcher Fälle, sondern nur durch die Schulung der übergeordneten Fähigkeiten, die dann dazu befähigen schnell die richtige Entscheidung zu treffen.

    Gleiches gilt meiner Meinung nach im pädagogisch-erzieherischen Feld. In Bezug auf Leistungsförderung oder Moralentwicklung. Wichtig ist doch, dass Menschen zu denken lernen. Alles weitere ergibt sich mit einem geeigneten Maß an Vorwissen meiner Meinung nach dann schon J

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